Estland: Corona-Krise trifft auf polarisierte Medienlandschaft

Alle estnischen Medienhäuser sind von der Corona-Krise finanziell hart getroffen, denn die Werbeeinnahmen sanken schlagartig. Viele Verlage haben mit Gehaltskürzungen um bis zu 20 Prozent für ihre Journalisten und sogar Entlassungen reagiert. Gleichzeitig können die Medien aber auch von der Krise profitieren.

Estlands Innenminister Mart Helme von der rechtsextremen Partei Ekre. Er forderte 2019 vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk den Rauswurf aller Journalisten, die sich "voreingenommen" gegenüber seiner Partei gezeigt hatten.
Estlands Innenminister Mart Helme von der rechtsextremen Partei Ekre. Er forderte 2019 vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk den Rauswurf aller Journalisten, die sich "voreingenommen" gegenüber seiner Partei gezeigt hatten.
Denn die Leserzahlen sind in der Krise angestiegen. Insbesondere die russischsprachigen estnischen Medien haben einen enormen Zuwachs erlebt, bei einigen wurden die Leserzahlen sogar verdoppelt. Medienforscher vermuten, dass die russischsprachigen Menschen in Estland (rund ein Viertel der Bevölkerung) die Kanäle aus Moskau in der Krise nicht mehr als eine nützliche Quelle für den Alltag empfinden und sich den einheimischen Angeboten zuwenden. Ob dieser Trend anhält, bleibt freilich abzuwarten.

Õhtuleht, die größte estnische Tageszeitung, versucht in der polarisierten Atmosphäre ein neues Mittel gegen Hassrede: Seit Anfang März 2020 dürfen nur noch Abonnenten Online-Kommentare schreiben. Experimente mit der Personenidentifizierung, wie etwa bei Postimees oder dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ERR, halten die Leser augenscheinlich nicht von Hasskommentaren ab.

Beschimpfungen und Entlassungen kritischer Stimmen


Vor der Corona-Krise hatte sich die estnische Gesellschaft seit dem Beginn der Regierungsbeteiligung der rechtsextremen Partei Ekre im April 2019 stark polarisiert – und das hat sich auch auf die Medien ausgewirkt. Journalisten wurden von Ministern als „paramilitärische Einheit der Opposition“ und „linksradikale Aktivisten“ beschimpft.
Postimees, die Flaggschiff-Publikation eines der zwei größten Medienhäuser, ist durch die Einmischung des konservativen Eigentümers Margus Linnamäe zu einem „konservativen Werte-Leuchtturm“ (Õhtuleht, 7.02.2020) geworden. Dutzende kritische Journalisten wurden entlassen oder haben seit dem Frühjahr 2019 gekündigt, darunter die kompletten Belegschaften der Ressorts Meinung, Wirtschaft, Sport und Investigativ-Journalismus. Noch vor der ersten Entlassungswelle hatten Journalisten mit einem Ultimatum den Chefredakteur Peeter Helme (Neffe des Ekre-Innenministers) zum Rücktritt gezwungen. In der ersten Woche der Corona-Krise hat der neue Chefredakteur des Blatts erklärt, es sei nun unangebracht, die Regierung zu kritisieren.

Ekspress Meedia, das andere große Medienhaus, hat viele regierungskritische Journalisten von Postimees übernommen und ist damit auch verstärkt zur Zielscheibe der Angriffe von rechten Politikern geworden.

Seit einem Jahr sind auch mehrere kritische Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ERR den Angriffen der Regierungspolitiker ausgesetzt. Parlamentsparteien haben Einfluss durch den Rundfunkrat. Von dort hört man immer öfter Forderungen nach Entlassungen. Der Radio-Talkshow-Host Ahto Lobjakas musste die Moderation seiner populären Sendung aufgeben, weil er keine Selbstzensur ausüben wollte. Im Allgemeinen hat aber ERR die Rolle eines unabhängigen Mediums noch behalten.

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In den letzten zwei Jahren haben sich die Geschäftsmodelle aller Verlagshäuser deutlich verändert. Die Printauflagen sinken weiterhin, aber durch den Anstieg der Digitalabonnements klettern die Leserzahlen insgesamt nach oben. Die Daten von Eesti Ekspress zeigen beispielsweise einen Anstieg von 28.000 Lesern im Jahr 2018 auf 40.000 Leser 2019, wenn man Print und Digital zusammenfasst. Äripäev verzeichnete im gleichen Zeitraum einen Leserzuwachs von 46 Prozent (auf 15.000). Damit spielen die Einnahmen durch die Abos bei dem Medium eine größere Rolle als die Werbung.

Rangliste der Pressefreiheit (Reporter ohne Grenzen): Platz 14 (2020)

Stand: April 2020
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