Türkei: Regierung will auch das Internet unter Kontrolle bringen

Über eine vielfältige Medienlandschaft verfügt die Türkei schon längst nicht mehr, fast 90 Prozent der Medien hat die Regierung auf Linie gebracht. Doch nun will sie ihren Eingriffsbereich noch ausweiten: Alle online ausgestrahlten Ton- und Bildaufnahmen wurden unter die Kontrolle der Rundfunkbehörde (RTÜK) gestellt. Davon sind neben oppositionellen Medien auch Streaming-Dienste wie Netflix direkt betroffen.

Bei der Nutzung von Twitter und Facebook rangiert die Türkei im weltweiten Vergleich auf den vordersten Plätzen.
Bei der Nutzung von Twitter und Facebook rangiert die Türkei im weltweiten Vergleich auf den vordersten Plätzen.
Der massive Druck, den die AKP-Regierung seit Jahren auf kritische Medien ausübt und der sich nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 zuspitzte, hat nicht nachgelassen. Auch wenn 2020 keine neuen Inhaftierungswellen von Journalisten zu verzeichnen waren, sind 44 von ihnen noch immer nicht auf freiem Fuß. Unbequeme Medienorgane werden verboten, hohen Geldstrafen ausgesetzt oder verlieren ihre Werbepartner, weil diese sich ebenfalls vor Sanktionen fürchten. Nachrichtensperren, mit denen die Regierung verhindert, dass über politisch brisante Themen berichtet wird, sind weitere alltägliche Zensurmittel.

Doch die AKP-Regierung unter der Führung von Präsident Erdoğan will sich damit nicht begnügen und stattdessen die Eingriffe auch auf das Internet ausweiten. Denn nach den Repressionen durch die Staatsführung hat sich die regierungskritische Berichterstattung mittlerweile fast ausschließlich online aufgestellt. Heute berichten hauptsächlich Internetportale wie Artı Gerçek, T24 oder Gazete Duvar über Themen, die von etablierten Medien verschwiegen werden. Einen extrem hohen Stellenwert haben soziale Medien, 90 Prozent der Internetnutzer sind dort aktiv. Insbesondere bei der Nutzung von Facebook und Twitter rangiert die Türkei weltweit auf den vordersten Plätzen.

Zigaretten und Alkohol werden verpixelt

Nun wurden 2019 alle audiovisuellen Internetdienste der türkischen Medienaufsicht unterstellt. Die sittenstrenge Rundfunkaufsichtsbehörde RTÜK lässt bereits seit vielen Jahren den Genuss von Zigaretten und alkoholischen Getränken in Fernsehsendungen im Namen des Jugendschutzes verpixeln. Jetzt sind auch Streaming-Anbieter wie das heimische BluTV und Netflix davon betroffen.

Doch diese Maßnahme zielt nicht nur auf Unterhaltungsprogramme, sondern auch auf regierungskritische Internet-Fernsehkanäle: So zum Beispiel auf Medyascope, das in den letzten Jahren immer mehr zu einer wichtigen alternativen Informationsquelle für regierungskritische Kreise wurde. Daneben gibt es als oppositionelle Stimmen nur noch die konventionellen Sender Fox TV, der dem US-Medienmogul Murdoch gehört und somit finanziell unabhängig ist, und Halk TV, den Sender der Oppositionspartei CHP. Über 15.000 Euro müssen Internetmedien nun zahlen, um eine Lizenz von RTÜK zu erhalten. Für kleine Sender, die zumeist Initiativen arbeitsloser kritischer Journalisten sind, ist das eine hohe Hürde.

Medienkonzentration bei mächtigen Firmengruppen

In der Türkei ist zudem die Selbstzensur unter Journalisten stark verbreitet. Diese wurzelt in der Angst vor Repressionen nicht nur seitens der Regierung, sondern auch seitens des Arbeitgebers. Grund dafür ist die wirtschaftliche Struktur der Medienlandschaft: Rund 70 Prozent der türkischen Medien gehören zu wenigen großen Gruppen. Neben den etablierten Holdings kauften seit 2010 vermehrt islamisch-konservative, der Regierung nahestehende Unternehmer große Medien auf. So wurden etwa die verhältnismäßig auflagenstarke Sabah und der Fernsehsender ATV in Sprachrohre der Regierung umgewandelt. Fast alle Mediengruppen wiederum sind in der Hand großer Konzerne, die auch im Bau-, Finanz- oder Energiesektor tätig sind. Informationen, die ihren Geschäftszielen entgegenstehen, werden oft unterschlagen. Um lukrative Staatsaufträge zu ergattern, verhindern sie regierungskritische Berichterstattung.

Die größte Mediengruppe, Doğan, zu der unter anderem die Tageszeitung Hürriyet und der TV-Sender CNN Türk gehörten, wurde im Jahr 2009 zu Steuerstrafen in Milliardenhöhe verurteilt. Sie hatte bis dahin sehr regierungskritisch berichtet. Damals wurden ihre Kommentare sanfter. Doch das reichte der Regierung nicht. Sie konnte der Doğan-Mediengruppe kritische Schlagzeilen aus den 1990er Jahren über Erdoğan nicht verzeihen und verstärkte den Druck dermaßen, dass diese im März 2018 an die regierungsnahe Holding Demirören verkauft wurde, der bereits Zeitungen wie Milliyet und Habertürk gehören. Damit hält die Regierung jetzt 90 Prozent der Medien in der Hand.

Unabhängige Zeitungen haben einen schweren Stand und können nur mit alternativen Geschäftsmodellen überleben. Wenn auch nicht so stark wie einst die Doğan-Medien, sind Cumhuriyet, Sözcü, Evrensel und Birgün die einzigen verbliebenen Festungen oppositioneller Berichterstattung im Printbereich. Doch ähnlich wie in der Politik die Opposition schaffen es diese Medien ebenfalls nicht, eine geschlossene Front gegen die Repressionen zu bilden: Die kemalistische Sözcü wird aufgrund ihres überwiegend nationalistischen Stils von einigen Kreisen der Opposition abgelehnt, die lieber die pro-kurdische Evrensel lesen. Diese gilt wiederum unter vielen Türken als kurdisch-nationalistisch und PKK-nah.

Ranglisten der Pressefreiheit:
Reporter ohne Grenzen: Platz 154 (2020)

Stand: April 2020
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