Trauer und Wut nach Attentat in Ankara

Drei Wochen vor der Neuwahl hat ein Anschlag auf eine Friedensdemonstration in Ankara mit mindestens 97 Toten die politische Krise in der Türkei verschärft. Einige Kommentatoren wittern eine Verschwörung der Regierungspartei AKP, mit der sich diese wieder die absolute Mehrheit sichern will. Andere machen Europa für das politische Chaos in der Türkei mitverantwortlich.

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Delo (SI) /

Anschlag soll AKP die absolute Mehrheit sichern

Der Vorsitzende der kurdennahen Partei HDP, Selahattin Demirtaş, hat die türkische Regierung für den Anschlag in Ankara verantwortlich gemacht. Die linksliberale Tageszeitung Delo findet dies plausibel: "Man wird das Gefühl nicht los, dass das türkische Regime den Bürgern wohlüberlegt Angst vor Terrorismus macht. Die führende Nomenklatur möchte die Wähler auf diese Weise wieder an sich binden und sich so die absolute Mehrheit sichern. Die Türkei hat in ihrer Geschichte zahlreiche Krisen überstanden. In den 1970er Jahren hat die Gewalt den Staat beinahe gespalten. In den 1990er Jahren war der Höhepunkt des Kriegs gegen die Kurden. Später hat sich gezeigt, dass hinter all diesen Krisen ein düsteres Netzwerk des Geheimdienstes stand, das immer auf Anweisung von oben gehandelt hat. Jetzt wird in der Türkei der Frieden wieder getötet. Wer verbreitet erneut absichtlich Chaos und Gewalt? Die kurdische Opposition behauptet, die Antwort zu kennen."

Le Temps (CH) /

Europa braucht eine Türkeipolitik

Die Ereignisse in der Türkei betreffen die EU direkt, weshalb sie sich mehr um das Land kümmern sollte, fordert die liberale Tageszeitung Le Temps nach dem verheerenden Attentat in Ankara: "Der Kontinent lässt die Türkei, die die Ankunft von mehr als zwei Millionen Syrern nicht allein bewältigen kann, im Stich. Flüchtlinge an der griechischen Küste an Land gehen zu sehen, verursacht Europa Übelkeit. Daher will es erreichen, dass die Türkei sie zurücknimmt und in ihrem Land hält. Als Gegenleistung: Peanuts! Dieser Kuhhandel ist für Ankara inakzeptabel. Europa hätte gern, dass die Kurden den Kampf gegen die Dschihadisten anführen, doch lässt es sie ebenfalls im Stich. Auch die Journalisten und die Verteidiger der Menschenrechte, die immer wieder die Alarmglocke geläutet haben, lässt es im Stich. Widersprüche, kurzfristige Politik und Lähmung: Europa hat sich festgefahren. Was in der Türkei geschieht, betrifft uns jedoch ganz besonders und wird Auswirkungen bei uns haben. Wir brauchen daher eine Türkeipolitik."

Sme (SK) /

Türkei steuert auf Bürgerkrieg zu

Die Türkei ist nach dem Bombenanschlag von Ankara einem Bürgerkrieg näher denn je, fürchtet die liberale Tageszeitung Sme: "Erdoğan konzentriert eine ausreichende Macht in seinen Händen. Er hat die Sicherheitskräfte fest an seiner Seite. Auf seinem Weg zur Allmacht stoppten ihn zwischenzeitlich nur die jüngsten Wahlen. Die werden am 1. November wiederholt. Deutlich stärker sind aber auch die Kurden, die im syrischen und irakischen Chaos die Chance auf einen eigenen Staat sehen. Mit Unterstützung des Westens kämpfen sie erfolgreich gegen den IS. Der Westen benötigt gegen den IS beide Seiten, Kurden wie Türken. Er kann sich nicht leisten, einen seiner Verbündeten zu verlieren und weiß nicht, an wessen Seite er sich stellen soll. ... Das alles könnte einen Bürgerkrieg auslösen. Und wie geht das einfacher, als mit einem Angriff direkt in der Hauptstadt?"

Cumhuriyet (TR) /

Regierung stiehlt sich aus Verantwortung

Der türkische Innenminister Selami Altınok hat nach dem Attentat in Ankara am Samstag erklärt, es habe keine Sicherheitslücke gegeben und einen Rücktritt ausgeschlossen. Für die kemalistische Tageszeitung Cumhuriyet ist das unfassbar: "Egal wo auf der Welt, nach einem Ereignis solchen Ausmaßes werden Regierungen zur Verantwortung gezogen. Aber in diesem Land ist es quasi eine Straftat, die Regierung für irgendetwas verantwortlich zu machen. Fast werden schon die Toten zu Schuldigen erklärt, aber keine einzige zuständige Behörde trägt Verantwortung. Beinahe wird der Fall zu einer Naturkatastrophe und das Sterben zu einer schicksalhaften Folge einer Demonstrationsteilnahme erklärt. Doch der mit seiner Leistung prahlende Staat ist aus irgendeinem Grund für nichts verantwortlich. ... Solch eine Dreistigkeit hat man noch nicht erlebt."