Causa Böhmermann: Hat Merkel richtig entschieden?

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Weg freigemacht für ein Strafverfahren gegen den Satiriker Jan Böhmermann. Dessen "Schmähgedicht" über Erdoğan zieht nun strafrechtliche Ermittlungen wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts nach sich. Ist Merkel vor Ankara eingeknickt?

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Hürriyet Daily News (TR) /

Das wird für Erdoğan nach hinten losgehen

Erdoğan hat zwar jedes Recht, gegen das 'Schmähgedicht' zu klagen, trotzdem dürfte er zum Verlierer des Falls werden, prognostiziert die liberale Hürriyet Daily News:

„Der Punkt ist, dass Erdoğans völlige Intoleranz gegenüber derartigen Parodien und Karikaturen von ihm dazu geführt hat, dass die überwältigende Mehrheit der europäischen Medien auf Böhmermanns Seite ist. ... So ist es unwahrscheinlich, dass Erdoğan diesen Fall gegen Böhmermann gewinnt. ... Niemand in Europa ist gewillt, Erdoğan einen Vorteil zu verschaffen, der ihm als weitere Rechtfertigung dafür dienen würde, seinen autoritären Weg in der Türkei fortzuführen. Tatsächlich glauben sogar viele, dass dieser Fall nach hinten losgehen und sich wandeln werde von einem Fall gegen Böhmermann zu einem Fall gegen Erdoğan, der damit seinen Kritikern eine neue Plattform bietet. Anders ausgedrückt: Erdoğan hätte diesen Fall vernünftiger regeln können. Aber das an diesem Punkt von ihm zu erwarten ist einfach nicht realistisch.“

Financial Times (GB) /

Europa verliert den Respekt der Welt

Europa darf seine Grundwerte wie Presse- und Meinungsfreiheit nicht opfern, um Regierungen aufstrebender Länder freundlich zu stimmen, warnt die Financial Times:

„Die Zeiten, in denen europäische Regierungen so reich, mächtig und stolz waren, dass sie Drohungen von Ländern wie der Türkei, Saudi-Arabiens, Russlands oder Chinas schlicht ignorieren konnten, sind vorbei. Europas wirtschaftliche und politische Macht nimmt relativ gesehen immer stärker ab. Das macht EU-Länder anfälliger, dem Druck ausländischer Staatsführer nachzugeben und europäische Medien in die Schranken zu weisen - oder aber sie müssen sich den wirtschaftlichen und politisch-strategischen Folgen stellen. ... Wenn die Europäer einknicken und fundamentale Freiheiten einschränken, gewinnen sie vielleicht Geld und ein ruhiges Leben. Doch sie verlieren die Selbstachtung und letztlich auch den Respekt der Welt.“

Club Z (BG) /

Merkel führt Erdoğan aufs Glatteis

Für goldrichtig hält die Entscheidung von Angela Merkel das Nachrichtenportal Club Z:

„Merkel hat eine klare Lektion in puncto politischer Führung erteilt. Ihre Ansprache ist ein politisches und juristisches Meisterwerk. Sie führt Erdoğan aufs Glatteis der Rechtstaatlichkeit, auf dem er keine gute Figur macht. Sie rechnet damit, dass der türkische Präsident an der Stelle ausrutschen wird, wo es um Medien- und Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz und die Unschuldsvermutung geht - alles Errungenschaften, die, wie Merkel richtig anmerkt, bei 'unserem Partner und Verbündeten' Türkei nicht ausreichend gewährleistet sind. Und Böhmermann? Ihn erwartet keine Gefängnisstrafe, sondern ganz im Gegenteil - eine glorreiche Zukunft wegen seines Beitrags zur Abschaffung des schwachsinnigen Paragrafen 103 StGB, die Merkel angekündigt hat. Der Dumme wird am Ende Erdoğan sein.“

Berliner Zeitung (DE) /

Lehrstück in Sachen Gewaltenteilung

Für die linksliberale Berliner Zeitung hat Angela Merkel dem türkischen Präsidenten gezeigt, was der Begriff Gewaltenteilung bedeutet:

„Sie hat nicht nur zu Recht auf die Zuständigkeit der Rechtsprechung verwiesen, sondern zugleich endlich die Abschaffung des 'Majestätsbeleidigungs'-Paragrafen (§103 Strafgesetzbuch) in Aussicht gestellt. Seine Streichung empfiehlt sich nicht nur, weil nicht einzusehen ist, dass ein ausländisches Staatsoberhaupt einen umfassenderen Rechtsschutz verdient als jeder andere Bürger. Sie ist auch deshalb geboten, weil mit der Anwendung des § 103 StGB stets ein Eingriff in die Gewaltenteilung droht. Denn nach § 104a StGB kann die Bundesregierung - wie geschehen - der Justiz die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilen oder verweigern. ... Eine Regelung aber, die eine Verletzung des Prinzips der Gewaltenteilung in das Ermessen der Spitze der Exekutive stellt, gehört nicht ins Strafgesetzbuch.“

The Sunday Times (GB) /

Europas Führerin hat die Orientierung verloren

Kritik kommt von der konservativen Wochenzeitung The Sunday Times. Für sie vergeht sich Angela Merkel am Grundrecht der Meinungsfreiheit:

„Den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan als Verbündeten zu haben, hat Konsequenzen, wie Merkel erkennen musste. ... In Deutschland war die Reaktion der Medien, der Politiker von Merkels eigener Koalition und der Öffentlichkeit ablehnend und hämisch. Die deutsche Kanzlerin, die früher stets auf einen Konsens hinarbeitete, scheint bereit zu sein, das Recht auf freie Meinungsäußerung einem Abkommen mit einem ausländischen Staatsoberhaupt zu opfern, das selbst nichts von diesem Recht hält. Die Frau an der Spitze der größten Wirtschaftsmacht Europas, die De-Facto-Führerin Europas hat die Orientierung verloren.“

Yeni Şafak (TR) /

Kanzlerin haut für Erdoğan auf den Tisch

Der türkischen Opposition dürfte es kaum gefallen, dass Kanzlerin Angela Merkel ein Strafverfahren gegen den Komiker Jan Böhmermann zugelassen hat, urteilt die regierungstreue Tageszeitung Yeni Şafak:

„Merkel hat für Erdoğan mit der Faust auf den Tisch geschlagen. ... Für die Pottwale unserer Medien ist das natürlich gar nicht erfreulich. Schließlich sagten sie immer, bei uns gäbe es eine Diktatur, während Europa das Nirvana der Demokratie sei. Nun schaut, was die Deutschen machen. Nicht die Beleidigung ihrer eigenen Minister, Premiers oder Präsidenten, sondern die Beleidigung einer Staatsgröße eines anderen Landes verzeihen sie nicht. ... Wir hingegen können sogar unseren eigenen Präsidenten oder Premier beleidigen! .... Merkel hat die Erlaubnis gegeben, dass diese Witzfigur, die Erdoğan beleidigt hat, angeklagt wird - schaut euch das an, die Staatsspitze gibt Erlaubnis zur Anklage. Und Ihr [die Opposition] mögt nicht einmal unsere eigene Justiz!“