Rügt Papst Franziskus Europa?

Für seine Verdienste um die europäische Einigung erhält Papst Franziskus im Vatikan den Karlspreis. Neben den EU-Politikern Juncker und Schulz nehmen die Regierungschefs Merkel und Renzi an der Verleihung teil. Das sind die letzten Politiker, die noch an Europa glauben, meinen Kommentatoren und prophezeien, dass Franziskus die Bürger an ihre Verantwortung für das Gemeinschaftsprojekt erinnert.

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Avvenire (IT) /

Europa hat Alzheimer

Papst Franziskus wird an seine Rede von vor zwei Jahren vor dem Straßburger Parlament anknüpfen, in der er ein müdes, gealtertes Europa beklagte, prophezeit Avvenire:

„Das Problem der 'Großmutter' Europa ist Alzheimer. Angesichts der Chronik der jüngsten Geschehnisse drängt sich uns auch weiter das Bild eines alten Europas auf, das wie das Opfer schwerer Gedächtnislücken, erneut Zäune errichtet. Ein Europa, das die alte Weisheit seiner Gründerväter, die großen Ideale seiner Seele und 'jenen humanistischen Geist, den es doch liebt', begräbt, wie Papst Franziskus in Straßburg mahnte. ... Für ein orientierungsloses und an Gedächtnisschwund leidendes Europa ist das epochale Flüchtlingsproblem eine Gelegenheit nachzudenken und zu begreifen, was es ist und was wir Bürger von ihm erwarten. Es ist eine Frage der gemeinsamen Verantwortung aller Bürger und nicht nur die der Politiker.“

La Repubblica (IT) /

Die letzten Europäer versammeln sich in Rom

Die an der Verleihung teilnehmenden Spitzenpolitiker und der Papst sind die Letzten, die noch an Europa glauben, klagt La Repubblica:

„Verglichen mit der Finanzkrise hat die Flüchtlingskrise brisantere Folgen. ... Denn sie weckt Dämonen, die die Fundamente Europas selbst in Frage stellen: das Prinzip der Solidarität, das Prinzip der geteilten Staatshoheit, ja sogar das Prinzip der Humanität, das wir über allzu lange Jahrzehnte hinweg irrtümlicherweise als selbstverständlich ansahen. Die Begegnung der letzten Führungskräfte in Rom, die noch stolz diese Prinzipien verteidigen, die noch bereit sind, unter ihrem Banner gegen den wachsenden Populismus zu Felde zu ziehen, verdeutlicht, wie sehr Europa geschrumpft ist. ... Es kann das Bild eines wehmütigen Endes sein. Aber es könnte auch das Bild eines Neuanfangs sein, wie ihn der Papst fordert. Er erscheint heute so problematisch wie unvermeidbar.“