Kann Europa Trump trotzen?

Verwundert bis verstört: So reagierte Europa auf das Interview Donald Trumps mit Bild und The Times. Demnach hält der künftige US-Präsident die Nato für obsolet, den Brexit für klug und Merkels Flüchtlingspolitik für einen katastrophalen Fehler. Kommentatoren hoffen, dass sich Europa von diesen Tönen nicht beirren lässt und im Sinne eines „Jetzt erst recht“ eine neue Strategie der Einheit entwickelt.

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Jutarnji list (HR) /

EU braucht dringend eine Strategie der Einheit

Um den Frieden auf dem Balkan sorgt sich angesichts des Amtsantritts von Trump Jutarnji list:

„Es gibt keine Krise in Europa, von Irland bis zum Westbalkan, die die EU ohne die führende Rolle der USA hätte lösen können. Heute ist die Situation, beispielsweise auf dem Balkan, nicht mehr stabil. Jegliche Ankündigung, das Engagement der USA auf dem Balkan zu verringern, wird all jene ermutigen, die meinen, dass die Grenzziehung in dieser Region noch nicht abgeschlossen sei. Und die EU wäre ohne die USA vollkommen ohnmächtig. Ebenso ohnmächtig, einen Krieg zu verhindern wie Anfang der 1990er Jahre. ... Für die Zukunft der EU werden ausschließlich die europäischen Führungspolitiker verantwortlich sein. Sie müssen ernsthaft zusammenarbeiten und mehr Verantwortung übernehmen. Nur so können sie in Zeiten des Brexit und eines Menschen im Weißen Haus, der offensichtlich keine Sympathien gegenüber der Union hegt, die europäische Einheit erhalten.“

Právo (CZ) /

Kommt der Kontinent alleine klar?

Für Pravo deutet sich nach dem Trump-Interview ein ernster Riss in den transatlantischen Beziehungen an:

„Die EU liegt Trump - anders als Obama - nicht am Herzen. Den Brexit findet er toll. Und er erwartet ein Zerbrechen der EU, die er aber ohnehin nur als lästigen Konkurrenten betrachtet. ... Der neue Graben geht viel tiefer als vor 14 Jahren, als um die Legitimität des Irak-Kriegs gestritten wurde. Merkel reagierte diplomatisch. Europa habe sein Schicksal selbst in der Hand und sollte wie bisher zusammenarbeiten, um für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewappnet zu sein. Das heißt aber auch, sich damit abzufinden, dass die USA kein vorbehaltloser Verbündeter mehr sein könnten. ... In einer Welt, in der die Karten neu gemischt werden, ist Europa gezwungen, sich um seine eigenen Interessen zu kümmern. Das ist nicht unbedingt schlecht. Doch ist es dazu auch fähig?“

Corriere della Sera (IT) /

Wir haben unser Schicksal selbst in der Hand

Angela Merkel hat in ihrer Reaktion auf das Interview die EU-Staaten angemahnt, sich von der Kritik Trumps nicht verunsichern zu lassen. Das ist die richtige Antwort, pflichtet Corriere della Sera bei:

„Wird die Vereidigung am Freitag in Washington für Europa zum Trauertag? Zum Beginn eines politischen, wirtschaftlichen und sozialen Albtraums für eine Gemeinschaft, die bereits schwach und nun dem Gnadenstoß ausgesetzt ist? ... Wir Europäer würden einen großen Fehler begehen, wenn wir, statt unsere gemeinsamen Interessen zu vertreten, uns um ungelegte Eier kümmern und darüber jammern würden, dass uns Amerika zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vernachlässige oder gar bekämpfe. … Europa hat viel zu verlieren, aber auch viel zu gewinnen. Statt es seinem langsamen Todeskampf zu überlassen, hat Trump Alarmstufe Rot für sein Überleben ausgerufen. … Jetzt sind die Europäer an der Reihe, um, wie Merkel sagt, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Sie sind es, die entscheiden, nicht Trump.“

Sme (SK) /

Keinen blassen Schimmer von Europa

Donald Trump hat nicht verstanden, was Europa ist, urteilt Sme fassungslos:

„Wenige Tage vor Beginn seiner Präsidentschaft liegt Trump mit seiner Europaanalyse heftig daneben. Wenn er wirklich glaubt, dass Deutschland ein Instrument ist, um die USA im Welthandel auszubooten, kennt er nicht einmal die ökonomischen Gesetze, was bei einem supererfolgreichen Geschäftsmann verwundert. In der EU geht es nicht nur um Handel, sondern um Dinge wie offene Grenzen, Reisefreiheit und Zusammenarbeit auf vielen Gebieten. Um Dinge, die Europa eine Ära des Friedens und des Wohlstands wie nie zuvor gebracht haben. Wenn es dem Präsidenten gleich ist, was aus der EU wird - den Europäern ist es das nicht. ... Ein weiterer Beleg dafür, dass er nicht begreift, was in unserer Region vorgeht, sind seine Aussagen, dass er Merkel und Putin gleichermaßen traut und die Nato sich überlebt hat. ... Und all dies kommt vom künftigen Präsidenten der stärksten Macht der freien Welt.“

De Standaard (BE) /

Dem Weltgeschehen machtlos ausgeliefert

Europa wird seine Ohnmacht durch das Interview erneut brutal vor Augen geführt, findet De Standaard:

„Jeden Tag wird deutlicher, wie machtlos Europa gegenüber dieser Umkehrung aller Werte ist. Angela Merkel sagte gestern als Reaktion, dass Europa sein Schicksal in den eigenen Händen hält. Das stimmt, aber genau das ist das Problem. Die Union steht total gespalten vor der Herausforderung, zum ersten Mal in 70 Jahren selbst für ihre Sicherheit und Stabilität sorgen zu müssen. Und das ausgerechnet in einem Moment, in dem die Risiken an Europas Grenzen zunehmen: Putin und der israelische Premier Netanyahu strahlen voll Selbstvertrauen. … In der Türkei setzt sich die Machtergreifung von Erdoğan fort. Möglicherweise gönnt das neue Weiße Haus Russland und dem Iran Syrien, und bleibt der Schlächter Baschar al-Assad einfach im Sattel sitzen. Gegenüber dieser beunruhigenden Realität muss Europa eine schärfere Antwort formulieren.“

L'Express (FR) /

EU könnte sehr wohl Weltmacht sein

Die inneren und äußeren Feinde stellen für die EU eine unheilvolle Kombination dar, der die Gemeinschaft 2017 standhalten muss, analysiert Jacques Attali in L’Express:

„Für die drei anderen Supermächte [USA, Russland, China] ist es das ideale Jahr, um einen potentiellen Rivalen loszuwerden. Dazu werden sie ihre Kräfte mit denjenigen zusammenschließen, die in Europa selbst die Union auflösen wollen. Denn nur in Europa gibt es Leute, die glauben, dass die Europäische Union im 21. Jahrhundert nicht die stärkste Weltmacht sein kann. Nur in Europa gibt es Leute, die zum Provinzialismus kleiner Gebiete zurückkehren wollen, obwohl sie die Chance haben, eine große demokratische und souveräne Nation zu errichten, die so groß wäre wie ihre stärksten Rivalen. … Für die Europäer lautet die Herausforderung für 2017: die Angriffe von außen und von innen abwehren, die - ohne es zu wissen oder zu wollen - sich gegenseitig stärken.“