EuGH sieht keine Pflicht für humanitäre Visa

Die EU-Staaten müssen Flüchtlingen in ihren Auslandsbotschaften keine humanitären Visa ausstellen, damit sie einreisen und Asyl beantragen können. Vielmehr sei es eine Entscheidung nach nationalem Recht, ob eine Einreiseerlaubnis erteilt werden könne, entschied der EuGH am Dienstag. Viele Regierungen zeigen sich ob des Urteils erleichtert. Europas Presse allerdings diskutiert die Entscheidung des höchsten EU-Gerichts kontrovers.

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Handelsblatt (DE) /

Gericht vermeidet Wahlkampfhilfe für Le Pen

Noch im Februar hatte der Generalanwalt des EuGH, Paolo Mengozzi, in einem Gutachten für humanitäre Visa plädiert. Dass der EuGH sich nicht von diesem leiten ließ, ist weitsichtig, findet das Handelsblatt:

„Wären die Richter seiner [Mengozzis] Argumentation gefolgt, hätte dies nicht nur das ohnehin wackelige System der europäischen Asylpolitik zum Einsturz gebracht. Es hätte auch einen Affront gegen die Nationalstaaten bedeutet, auf denen die Gemeinschaft fußt. Denn die Regierungen und Parlamente haben einer solchen Ausdehnung der in Europa geltenden Grundrechte über die Visapolitik nie zugestimmt. Hätte sich das oberste Gericht der EU über diesen berechtigten Einwand der Mitgliedstaaten hinweggesetzt, hätte dies nur den Kritikern der Europäischen Union recht gegeben: Sie sehen in den Brüsseler und Luxemburger Institutionen vor allem Instrumente zur Bevormundung der demokratisch legitimierten nationalen Politik. Eine bessere Wahlkampfhilfe hätten sich Marine Le Pen und ihre Gesinnungsgenossen in anderen Ländern kaum wünschen können“

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De Morgen (BE) /

Öffentliche Wohlfahrt in Europa nicht gefährden

Auch De Morgen spricht von einer guten Entscheidung und argumentiert, dass die Erteilung von Visa nicht der richtige Weg ist, um der Not von Flüchtlingen zu begegnen:

„Sicher können europäische Staaten noch mehr Menschlichkeit und Tatkraft beweisen, um die sehr reale Not von Flüchtlingen in Konfliktgebieten zu verringern. Doch das können sie tun, ohne dass sie die öffentliche Wohlfahrt gefährden. Hoffentlich finden Europas politische Führer irgendwann wieder die Ruhe, um gemeinsam diese Verantwortung zu übernehmen. Einen Überschuss an Empathie gibt es in der heutigen europäischen Politik sicher nicht. Dennoch: Das Visumrecht als erweiterten und zusätzlichen Zugang zu Asyl zu nutzen, ist wohl nicht die beste Methode, um das zu bewerkstelligen.“

La Stampa (IT) /

Urteil wälzt Verantwortung auf andere ab

Scharfe Kritik an der Entscheidung des EuGH übt hingegen Jurist Vladimiro Zagrebelsky in La Stampa:

„Ein Asyl- und humanitäres Schutzrecht, das Staaten nur denjenigen Flüchtlingen gewähren, die die Orte erreicht haben, in denen der Staat seine Rechtsprechung ausübt, ist moralisch widersprüchlich. Denn es bedeutet, dass es keine Aufnahmepflicht für diejenigen gibt, die das Territorium der jeweiligen nationalen Rechtsverantwortung nicht erreichen. Das führt dazu, dass die Staaten alles daran setzen, die Ankunft der Flüchtlinge zu verhindern, auch mit internationalen Initiativen und Absprachen, in denen sich Notwendigkeit und Heuchelei vermischen. Dies gilt zum Beispiel dann, wenn man, um die Flüchtlinge der Verantwortung anderer zu überlassen, behauptet, man werde sie an Orten festsetzen, an denen ihnen (wie in Libyen?) eine menschliche Behandlung zuteilwerde.“