Wahl in Frankreich: Schicksalsstunde für Europa?

In 15-minütigen Kurzinterviews im Fernsehen haben die elf französischen Präsidentschaftskandidaten am Donnerstagabend noch einmal Rede und Antwort gestanden. Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen vier Bewerbern voraus: Macron, Le Pen, Mélenchon und Fillon. Für Europa geht es bei dieser Wahl um die Existenz, erläutert die Presse und erklärt, warum die deutsch-französischen Beziehungen neuen Schwung brauchen.

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Jornal de Negócios (PT) /

EU hat ohne Frankreich keine Chance

Warum es bei dieser Wahl für die EU ums Ganze geht, erklärt Jornal de Negócios:

„Die Präsidentschaftswahl in Frankreich ist viel entscheidender für die gemeinsame Zukunft Europas und der Eurozone als der Brexit oder die Wahl von Donald Trump. Die EU kann - wenn auch schlecht - mit dem neuen US-Präsidenten und ohne Großbritannien leben. Sie existiert aber nicht ohne die deutsch-französische Achse. Und selbst wenn zwischen dem Wunsch eines 'Frexit' und dessen Umsetzung ein riesengroßer Verfassungsberg steht, der nur schwierig zu überwinden sein dürfte, würde es mit Gesprächspartnern wie Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon (beide Aushängeschilder für Nationalismus und Protektionismus) zunehmend schwierig werden, gemeinsame Herausforderungen wie das Thema Einwanderung oder das Thema Wirtschaftswachstum anzugehen.“

Kauppalehti (FI) /

Alptraum-Stichwahl zwischen Le Pen und Mélenchon

Eine Stichwahl zwischen Le Pen und Mélenchon würde das Ende der europäischen Integration bedeuten, fürchtet auch Kauppalehti:

„Die Vorsitzende des Front National, Marine Le Pen, die die Grenzen für Immigranten schließen und ihr Land vom Euro lösen will, hat das meiste internationale Interesse geweckt. … Aus Sicht der EU und der globalen Wirtschaft wäre es die schlechteste Option, wenn Le Pen und Jean-Luc Mélenchon den zweiten Wahlgang erreichen würden. Neben dem EU-Austritt Frankreichs gehört zu Mélenchons Wahlkampfthemen eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit und eine spürbar höhere Besteuerung. … Die europäische Integration mag vielleicht noch einen Austritt Großbritanniens verkraften, aber nicht mehr den Austritt des EU-Gründungsstaats Frankreich. Ein Sieg der radikalen Kandidaten wäre auch ein weiterer folgenschwerer Schlag für den Freihandel.“

Le Monde (FR) /

Berlin und Paris müssen EU reformieren

Die EU muss sich nach der Frankreich-Wahl entscheidend verändern, fordern zwei deutsche Abgeordnete der Grünen, Franziska Brantner und Sven Giegold, in Le Monde:

„Europa ist ein wichtiges Thema im französischen Wahlkampf. Proeuropäische Stimmen machen konkrete Vorschläge, selbst wenn die Diskussion von den vielen Europakritikern bestimmt wird. Das Unbehagen Europa betreffend hängt auch mit der deutschen Politik zusammen. Als führende Wirtschaftsmacht in Europa müsste Deutschland die notwendigen Reformen der EU gemeinsam mit Frankreich anstoßen, schon allein im eigenen Interesse. Die momentane Bundesregierung lehnt das seit Jahren ab. Dabei wollen in Deutschland auch viele ein besseres Europa und sind mit Angela Merkels und Finanzminister Wolfgang Schäubles Politik nicht einverstanden.“

Lost in EUrope (DE) /

Wo Frankreich besser als Deutschland ist

Häufig wird in Deutschland ein Bild von einem desolaten Frankreich gezeichnet, das mit der Realität nicht viel zu tun hat, bemerkt Eric Bonse auf seinem Blog Lost in Europe:

„Das fängt schon mit der Produktivität an. Nach Angaben der OECD liegt Frankreich hier seit Jahren vor Deutschland; zuletzt ist das größte EU-Land sogar international zurückgefallen. Auch bei den Auslands-Investitionen schneidet Frankreich besser ab als Deutschland. Der Abstand hat sich nach Angaben der [Welthandels- und Entwicklungskonferenz] UNCTAD zuletzt zwar verringert. Von einer Flucht der Investoren kann aber keine Rede sein. Bemerkenswert ist auch die Statistik zur Armut. In Frankreich gibt es zwar mehr Arbeitslose, aber weniger Arme, fasste das [Pariser Forschungsinstitut] OFCE schon 2013 zusammen. Daran hat sich nicht viel geändert. Im Gegenteil: Das Armuts-Problem ist in Deutschland unter der angeblich so erfolgreichen GroKo [Großen Koalition] so groß geworden, dass sich sogar die EU-Kommission darüber empört.“

Wiener Zeitung (AT) /

Demokratie ist zur Black Box geworden

Verlässliche Vorhersagen zum Ausgang der Wahl in Frankreich sind nach Ansicht der Wiener Zeitung - ebenso wie zuvor bei anderen Wahlen - kaum zu machen:

„Das Verhältnis zwischen Bürgern und Politik gleicht derzeit einer Black Box, wo völlig unklar ist, warum was wie geschieht. Und über allem thront ein gerüttelt Maß an Zufall und Willkürlichkeit. Wiederholbarkeit von Prozessen ist in der Wissenschaft eine der wichtigsten Voraussetzungen, um verlässliche Erkenntnisse aus Beobachtungen der Wirklichkeit herauszufiltern. Aber die meisten demokratischen Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit, die mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert haben, würden wahrscheinlich zu ganz anderen Ergebnissen führen, könnte man sie nur wiederholen. Das gilt wohl für das Brexit-Votum genauso wie auch für die US-Wahl. Und womöglich ist auch in Österreich Alexander Van der Bellens Wahlsieg nur deshalb so deutlich ausgefallen, weil es insgesamt drei Versuche gab.“

Libération (FR) /

Kandidaten wollen Trump nacheifern

Im Kopf-an-Kopf-Rennen der vier stärksten Kandidaten wird wohl das Votum der bisher stark unentschiedenen Arbeiterklasse den Ausschlag geben, kommentiert Libération:

„Der Front National könnte aus dieser Wahl als stärkste Arbeiterpartei Frankreichs hervorgehen. Allerdings muss Marine Le Pen sich bei dieser Bevölkerungsschicht gegen Jean-Luc Mélenchon durchsetzen, der dort immer mehr Stimmen einsammelt. ... In Frankreich gibt es viele, die sich von der politischen Klasse vernachlässigt fühlen können: Beamte, Bauern, Menschen die auf dem Land oder in strukturschwachen Regionen leben und Andere. Da kommt einem auch der letzte US-Wahlkampf in den Sinn, der den zum Sieg geführt hat, der sich als Sprachrohr dieser Außenseiter stilisiert hat. Natürlich sind die Gründe für Donald Trumps Wahlerfolg komplexer, aber diesen Sieg haben die im Kopf, die nun in Frankreich Präsident werden wollen.“

Aftonbladet (SE) /

Elitäre Linke treibt Wähler in Le Pens Arme

Der Erfolg von Marine Le Pen zeigt, wie sehr sich die Linke von ihren einstigen Stammwählern entfernt hat, verdeutlicht auch Aftonbladet:

„Das Antiestablishment und der Populismus, die Trump und Brexit beschert haben, sind vielleicht keine vorübergehende Abweichung sondern die neue Norm. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Wirtschaft und Konflikte zwischen Rechts und Links unwichtig geworden sind. Es gibt eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit den wachsenden Klassenunterschieden und das Gefühl, von der Elite im Stich gelassen worden zu sein. ... Marine Le Pens Wähler kommen aus der französischen Arbeiterklasse. Die linken Parteien sind aus vielen Gründen gescheitert, aber der vielleicht wichtigste ist ihr Elitismus. Ein Linker, der auf andere herabschaut, ist zum Scheitern verurteilt.“

Imerisia (GR) /

Der Euro war ein Fehler für Frankreich

Die Entfremdung der Franzosen von ihren Politikern begann schon lange vor der jetzt endenden Legislaturperiode, veranschaulicht die Wirtschaftszeitung Imerisia:

„Sie verschmähen nicht nur die Krisenpolitik von Hollande und Sarkozy. Sie verschmähen auch die strategische Entscheidung von [dem damaligen Präsidenten] François Mitterrand und [dem damaligen Finanzminister] Jacques Delors im Jahr 1983, einen langen Marsch in Richtung einer Währungsunion zu beginnen. ... Frankreich hat regelmäßig hohe Anforderungen akzeptiert, um Deutschland davon zu überzeugen, die deutsche Mark zu verlassen. Paris tat dies in der Erwartung, dass der Rahmen der europäischen Währung viel lockerer sein würde, was aber nicht der Fall war. Die erste Warnung, dass die einseitige Anpassung Frankreichs an die deutschen Vorschriften unvereinbar mit der sozialen und politischen Stabilität ist, kam im Frühjahr 2002, als der rechtsextreme Jean-Marie Le Pen es bis in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen schaffte.“

Sega (BG) /

Präsident wird ohne Rückendeckung regieren

Sollten Marine Le Pen und Emmanuel Macron in die Stichwahl kommen, hätten die Franzosen es mit zwei Kandidaten zu tun, die beide nicht die nötige Unterstützung im Parlament hätten, erläutert Sega:

„Weder die eine noch der andere kann das Land regieren, weil der französische Präsident, im Gegensatz zu Erdoğan, der von nun an mit Dekreten herrschen wird, keine Möglichkeit hat, das Parlament zu umgehen. Dort hat der Front National von Le Pen nur zwei Abgeordnete und Macron weiß nicht einmal, welche Partei ihn unterstützen wird. ... Auch bei der Wahl zur Nationalversammlung im Juni wird der neue Präsident keine starke parlamentarische Unterstützung bekommen, was bedeutet, dass Frankreich in eine dauerhafte politische Krise rutschen wird.“

Corriere della Sera (IT) /

Verarmte und verängstigte Franzosen wählen

Die letzten Umfragewerte verraten viel über den Zustand des Landes, analysiert Corriere della Sera:

„Fünf Tage vor der Wahl herrscht totale Ungewissheit. Zwei der möglichen Endrundenteilnehmer, Marine Le Pen und Jean-Luc Melénchon, die den populistischen, anti-europäischen Rechtsextremismus beziehungsweise den populär nationalistischen, zentralistischen Linksextremismus repräsentieren, kommen zusammen auf 40 Prozent der Stimmen. Eine Zahl, die viel aussagt über die Gefühle der Franzosen, über die Tiefe der wirtschaftlichen, sozialen Krise und den Identitätsverlust. So fern sich die beiden Kandidaten ideologisch auch sind, so finden doch beide ihre Wähler in einem Frankreich, das verarmt, von der Globalisierung verängstigt und dem Europa des Sparkurses und der Technokratie gegenüber nicht zu Unrecht feindselig gesinnt ist.“

Le Point (FR) /

Völliger Verlust des gesunden Menschenverstandes

Die Wirtschaftslage in Frankreich ist so schlecht wie nie, und die Präsidentschaftskandidaten ignorieren dies zum Großteil, konstatiert Le Point:

„Die große Fernsehdebatte der Präsidentschaftskandidaten war vor allem eine fast vierstündige große Verleugnung der wirtschaftlichen Realität. Das hat auf frappierende und furchtbare Weise gezeigt, in welch extrem verwirrtem Geisteszustand sich das Land heute befindet, und ebenso fast all jene, die es regieren wollen. Der wirtschaftliche Misserfolg der fünfjährigen Amtszeit von François Hollande besteht nicht nur in katastrophalen Statistiken das BIP, die Arbeitslosen oder den Außenhandel betreffend. Er besteht vor allem in dieser Zersetzung der Vernunft und im völligen Verlust des gesunden Menschenverstands. ... Fünf Jahre Hollande haben Frankreich in eine schwere Krise gestürzt. Das Land leidet an 'delirium oeconomicum', ökonomischen Wahnvorstellungen.“