Erdoğan mischt im deutschen Wahlkampf mit

Der türkische Präsident Erdoğan hat die Türken in Deutschland ermahnt, bei der Bundestagswahl ihre Stimme nicht den "Türkeifeinden" CDU, SPD und Grünen zu geben. Bundesaußenminister Gabriel verwahrte sich dieses "Eingriffs in die Souveränität" Deutschlands. Kommentatoren debattieren die Hintergründe dieses Schlagabtauschs.

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Daily Sabah (TR) /

Merkel sät Zwietracht

Die feindliche Haltung der deutschen Regierung gegenüber Muslimen und Türken könnte verheerende Folgen haben, warnt Daily Sabah:

„Frau Merkel, die angesichts von Herrn Trumps Populismus Anspruch auf die Führungsrolle in der freien Welt erhebt, könnte in dessen Fußstapfen treten, ohne es zu wissen. Sie hat selbstverständlich nicht Populismus und Fremdenfeindlichkeit angeheizt. Aber Frau Merkel, Herr [Bundesaußenminister] Gabriel und andere haben, indem sie einen Anti-Erdoğanismus schürten, unter den Deutschen Zorn gegen Muslime und Türken gesät. Um Erdoğan eine Lektion zu erteilen, hat [Merkel] ein Umfeld geschaffen, von dem weiße Rassisten - oder nennen wir sie so, wie sie wirklich heißen: Neonazis - in ihrer Bevölkerung profitieren könnten.“

Polityka (PL) /

Gefährliche Entfremdung von EU und Ankara

Der Türkeiexperte Karol Wasilewski befürchtet im Polityka-Interview, dass sich die Auseinandersetzungen mit der Türkei noch verschärfen:

„Langfristig ist das wohl Gefährlichste in den deutsch-türkischen, ja sogar türkisch-europäischen Beziehungen, nicht, dass es immer wieder zu irgendwelchen Turbulenzen kommt. Sondern, dass seit einiger Zeit ein Prozess der gegenseitigen Entfremdung in Wertefragen erkennbar ist. So weisen manche türkischen Journalisten darauf hin, dass Erdoğan nicht versteht, dass die deutsche Regierung tatsächlich nur einen begrenzten Einfluss auf die Justiz hat. Dieses Auseinanderdriften der Perspektiven wird voraussichtlich zu immer größeren Spannungen in den türkisch-europäischen Beziehungen führen.“

Lost in EUrope (DE) /

Wenn Putin das gewagt hätte!

Trotz der neuerlichen Provokationen Erdoğans glaubt Eric Bonse auf seinem Blog Lost in EUrope nicht an einen Kurswechsel Berlins oder Brüssels:

„Denn Merkel hat die Linie vorgegeben, bis zu ihrer Wiederwahl und der Regierungsbildung - also bis November - still zu halten. Deshalb muss nun Außenminister Gabriel als Watschenmann dienen. Und Kommissionschef Juncker, der eigentlich über die Werte der EU wachen sollte, darf für den Werte-Verächter Erdoğan 'die Tür offen' halten. Damit diskreditiert sich die EU selbst. ... Man stelle sich vor, Putin hätte so etwas gewagt. Nicht auszudenken. Die EU-Sanktionen würden stante pede verschärft, Politik und Medien würden den Kalten Krieg gegen Russland zur Eiszeit ausweiten. Doch dummerweise hat sich nicht Putin eingemischt, sondern Erdoğan. Nun sind die Meinungsmacher, die sich so schön auf Russland eingeschossen hatten, um eine Antwort verlegen.“

Rzeczpospolita (PL) /

Deutschland hat keinen Grund, sich zu beschweren

Wenn Deutschland sich jetzt über die Einmischung der Türkei beschwert, misst es mit zweierlei Maß, unterstreicht Rzeczpospolita:

„Die Reaktion in Berlin ist hysterisch. Die Parteiführung der SPD, bekannt für ihre scharfen Aussagen zu den internen Angelegenheiten anderer Länder, spricht von einer 'beispiellosen Souveränitätsverletzung'. Eine Einmischung verbittet sich auch Angela Merkel, die noch 2015 - zwei Wochen vor der türkischen Parlamentswahl - nach Ankara gefahren war, um Erdoğans Partei zu unterstützen. Man könnte jetzt spotten, dass 'wer zum Schwert greift, auch durch das Schwert umkommen wird'.“

Sabah (TR) /

Deutschtürken halten zu Erdoğan

Tatsächlich könnte der Patriotismus deutscher Türken mit darüber entscheiden, wem sie am Wahltag ihre Stimme geben, analysiert Sabah:

„Um die eigenen Gemüter zu beruhigen, behaupten einige Analysten, Erdoğans Aufruf werde sich nicht auswirken, weil türkischstämmige Deutsche eher den Grünen und den linken Parteien zuneigen. Jedoch wird dabei übersehen, dass sie das deshalb tun, weil diese Parteien für Minderheiten eintreten, und somit auch für ihre Rechte. Zweifellos wird sich ihre Wahlpräferenz angesichts der feindseligen Haltung einiger führender Politiker wie [dem Grünen-Vorsitzenden] Cem Özdemir [gegen die türkische Regierung] ändern. Auch wenn sie in Deutschland linke Parteien wählen: Ein Großteil der Türken ist und bleibt patriotisch und behauptet von sich, auf Seiten der Türkei zu stehen.“