Armenien: Warum mischte sich Moskau nicht ein?

Nach tagelangen Demonstrationen ist in Armenien Machthaber Sersch Sargsjan zurückgetreten. Er hatte sich nach zehn Jahren als Präsident das Amt des Premiers und noch mehr Vollmachten gesichert, nahm aber schon nach einer Woche den Hut. Kommentatoren fragen sich, warum Moskau seinen Verbündeten Sargsjan nicht unterstützt hat.

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Unian (UA) /

Abwarten und dann wieder Kontrolle übernehmen

Die Entwicklungen in Armenien müssen Russland nicht besonders beunruhigen, meint Politologe Maksym Rosumnyj auf dem Onlineportal Unian:

„Der Rücktritt Sargsjans kam für Russland höchstwahrscheinlich unerwartet. Weil die Situation bislang schwer verständlich ist und die nächsten Entwicklungen schwer zu prognostizieren sind, wartet Moskau ab. Es sieht im gegenwärtigen Moment seinen Einfluss auf Armenien nicht gefährdet und glaubt nicht, dass das Land infolge dieser Ereignisse stärker und unabhängiger werden wird. Eher im Gegenteil rechnet Moskau damit, dass die innenpolitische Krise Armenien schwächt und die Möglichkeiten für eine Kontrolle dieses Landes daher bestehen bleiben.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Russland will sich nicht die Finger verbrennen

Einen anderen Grund für Moskaus Zurückhaltung erkennt Radio Kommersant FM:

„Wir leben eben in einer neuen Realität, in der schon die kleinste Andeutung einer Einmischung Russlands - vor allem auf dem Gebiet der Ex-UdSSR - vom Westen als weitere bösartige Attacke auf die ewigen Werte der Demokratie ausgelegt werden kann. Und darauf folgen, wie bekannt, sofort Sanktionen. In so einer Lage ärgert man die Partner besser nicht. Wahrscheinlich wollte sich Moskau auch gar nicht einmischen. Selbst die für den Hausgebrauch gedachte Rhetorik der besonders eifrigen Vorkämpfer gegen die 'Farbrevolutionen' hätte Aufmerksamkeit erregen und die Basis für Anschuldigungen liefern können. Und Probleme gibt es schon genug.“

24.hu (HU) /

Knospende Freundschaft mit Ankara nicht gefährden

Dass Russland sich in Armenien zurückhält, um die Türkei nicht zu verärgern, glaubt 24.hu:

„Spannungen zwischen Armenien und der Türkei könnten das Syrien-Abkommen gefährden, das Russland gemeinsam mit der Türkei und dem Iran erzwingen will. ... Anfang April gab es ein demonstratives Treffen von Putin, Erdoğan und Rohani in Ankara. Die russisch-türkischen Beziehungen waren vielleicht seit Jahrhunderten nicht so eng wie jetzt. Seit dem Putsch gegen Erdoğan 2016 werden sie immer besser. Diese knospende russisch-türkische Freundschaft ist wichtig für Moskau, weil man so den nach den USA stärksten Nato-Mitgliedstaat umarmt. Ein armenisch-türkischer Konflikt könnte all das zunichtemachen. ... Darum will der Kreml in Armenien Ruhe haben.“

Echo Moskwy (RU) /

Sargsjan zeigt wahre Größe

Der Journalist Anton Orech lobt den Rücktritt in Echo Moskwy:

„Sargsjan ist ein guter Mensch und bei einem Treffen würde ich ihm die Hand geben. Denn er hatte die Wahl, zu gehen oder Gewalt anzuwenden. Die Macht nimmt Führern das Urteilsvermögen. Klammern sie sich an die Macht, sind sie zu den dümmsten Schritten fähig. Sargsjan hat diese Linie nicht überschritten, deshalb hat er mehr Gutes als Schlechtes an sich. Von Letzterem gibt es allerdings offenbar auch reichlich, sonst wären nicht 160.000 Menschen in einem Land auf die Straße gegangen, das nur drei Millionen Einwohner zählt. Eigentlich geht uns Armenien wenig an, doch gibt es so viele Verbindungen zu Russland: Auch dort wohnen Ex-Sowjetbürger. Armenien ist einer der wenigen Verbündeten Russlands. Und nichts fürchtet in Russland die Staatsmacht mehr als Straßenproteste.“

Cumhuriyet (TR) /

Russland hat wohl die Finger im Spiel

Eine Einmischung Moskaus in Armenien vermutet Cumhuriyet:

„Angesichts der Tatsache, dass sich Soldaten dem wachsenden Protest anschließen, ist die Frage, ob der nächste Schritt vom Militär kommen wird. Die armenische Armee wird streng von Russlands kontrolliert und es ist recht unwahrscheinlich, dass sie ohne den Segen Russlands handelt. Während der Druck der Straße immer größer wurde, klammerte sich Sargsjan erst an Russlands Arm fest und trat dann ab. Denn er war der größte Unsicherheitsfaktor im Land geworden.“

Lietuvos žinios (LT) /

Armenien ist keine freie Gesellschaft

Was Sargsjans Herrschaft in Armenien charakterisiert hat, erklärt Lietuvos žinios:

„Man kann die Situation in Armenien nicht mit der langen Herrschaft der Sozialdemokraten in Schweden vergleichen oder mit der von Merkel, die in Deutschland zum vierten Mal Kanzlerin wurde. In demokratischen Staaten kann kein Politiker so einen immensen Einfluss auf Behörden, Justiz und Medien ausüben und dabei so gegen Kritik gefeit sein und so hohe Umfragewerte genießen. ... Das ist nur möglich in den Ländern, wo Demokratie und Recht nur auf dem Papier stehen und Wahlen zur Formalität werden. So einen ähnlichen Weg ging auch Moskau.“