Laut mitgesungene Hymnen, mit Nationalfarben bemalte Gesichter, Jubel und Trauer über die Leistungen des eigenen Teams, Entscheidungen fremder Schiedsrichter, die dennoch stets akzeptiert wurden: Mit Ausnahme der frühen Ausschreitungen gab die EURO in Frankreich ein beeindruckendes Bild von Europa ab. 24 Völker, eigenständig und selbstbewusst, schufen einen Monat lang eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, die den friedlichen Wettbewerb und nicht die Feindschaft zelebrierte.

Doch mitten in dieses Volks- und Völkerfest platzte mit dem britischen Brexit-Votum eine Bombe, die dieses Europa zu zerreißen droht. Das Schlagwort "die Kontrolle zurückgewinnen", mit dem die EU-Gegner die Briten mobilisierten, bedeutet nichts anderes als eine Abkehr von den gemeinsamen Zielsetzungen und kollektiv ausgearbeiteten Regeln, auf denen die Union beruht. Die Vorstellung, dass in Zukunft mehr Länder einfach das tun werden, was ihre Politiker, der Boulevard oder der Stammtisch gerade für richtig halten, ist genauso erschreckend wie ein Fußballspiel, in dem Fouls nicht geahndet werden.

Es schweißt Nationen zusammen

Das wissen nicht nur die Eliten, sondern auch die meisten Wähler. Dass die EU dennoch an Unterstützung verliert, liegt auch daran, dass der Brüsseler Union jene emotionalen Elemente fehlen, die Nationen selbst dann zusammenschweißen, wenn sie von tiefen Interessenkonflikten geprägt werden.

Bei aller Verzweiflung über die rassistische Gewalt in den USA denkt dort niemand an einen Exit; man müsse noch viel enger zusammenstehen, heißt es. Und mit der Ausnahme des Vereinigten Königreichs, das gleich mit drei Teams bei der EM vertreten war, und Spaniens halten Europas Nationalstaaten trotz aller inneren Gegensätze zusammen. Die Bruchstellen treten zwischen ihnen auf, obwohl ein Arbeiter in Birmingham viel mehr mit dem Hackler in Lille teilt als mit dem Banker in London. Doch Erst- und Letztgenannten verbinden die Queen, der Pub und vielleicht auch die Daily Mail.

Hymne und Fahne fesseln nicht

Der EU ist es seit ihrer Gründung nicht gelungen, übergreifende Symbole zu schaffen, die eine Identifizierung erlauben. Weder die Hymne noch die Fahne lösen heute patriotische Emotionen aus, ebenso wenig die Fotos und TV-Aufnahmen aus den Glaspalästen von Kommission und Parlament in Brüssel und Straßburg. Stattdessen suggerieren sie das Bild einer vom Alltag abgehobenen Technokratie. Die vielen Tafeln bei Fabriken, Straßen und Radwegen, die auf den finanziellen Beitrag der EU hinweisen, sprechen nur den Verstand an und werden kaum wahrgenommen.

"Nation-Building" ist immer ein schwieriges Unterfangen, und sein emotionaler Teil lässt sich am wenigsten steuern. Aber die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssten sich doch überlegen, wie sie Gemeinschaftsgefühle schaffen können, ohne dabei die Verbundenheit mit dem Heimatland infrage zu stellen oder Feindbilder bezüglich anderer – seien es die USA, Russland oder China – aufzubauen.

EU als Sieger der Olympischen Spiele?

Der Sport böte dafür einen guten Anfang. Warum kann es im Medaillenspiegel bei den Olympischen Spielen in Rio nicht einen gemeinsamen Eintrag der EU geben? Er würde sicher an der Spitze stehen. Und bei den nächsten Spielen 2020 in Tokio sollte es jenen Athleten, die es wollen, möglich sein, unter der Europafahne anzutreten. Gewinnen sie Gold, ertönt Beethovens mitreißende Melodie. (Eric Frey, 10.7.2016)