Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat es seinen Kritikern in Europa leichtgemacht. Seine Ankündigung, er wolle nach dem gescheiterten Putsch nun rasch über die Einführung der Todesstrafe verhandeln, führte prompt zu scharfen Reaktionen. Ein Land, in dem die Todesstrafe gelte, könne nie Mitglied werden, hielt EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini entgegen.

So weit, so gut, und in der Sache absolut richtig: Nicht nur in der EU, auch im Europarat ist die Ächtung der Todesstrafe einer der demokratie- und rechtspolitischen Standardgrundsätze. Nur wer diese achtet, gehört zum "Klub" der echten demokratischen Staaten in Europa. Da darf es nicht den geringsten Zweifel geben. Mogherinis Hinweis findet sich folgerichtig auch in einer gemeinsamen Erklärung wieder, die die 28 EU-Außenminister zur Lage in der Türkei abgegeben haben.

Das Problem dabei ist nur: Die vom gnadenlosen und begabten Populisten Erdogan losgetretene Debatte über die ultimative Bestrafung der Aufständischen lenkt vom eigentlichen Problem ab. Die Todesstrafe wurde in der Türkei in den Jahren 2002 bis 2004 auf Druck der EU abgeschafft, im zivilen wie im militärischen Recht – ausgerechnet von AKP-Gründer Erdogan, als dieser noch Ministerpräsident war und den Weg seines Landes in den Europarat und die EU ebnen wollte.

Für die EU ist die Kernfrage nach den zigtausend Verhaftungen von Militärs, Richtern, Staatsanwälten und neuerdings auch Polizisten und Verwaltungsbeamten derzeit aber eine andere, etwas niederschwelligere: Kann die EU mit einem solchen Gegenüber, das den existierenden Rechtsstaat mit Füßen tritt, einfach so Beitrittsverhandlungen fortsetzen?

Man hat sie erst vor ein paar Monaten wieder aufgenommen, im Tausch mit dem EU-Türkei-Abkommen, das Ankara dazu verpflichtet, alle illegalen Flüchtlinge in der Ägäis wieder zurückzunehmen. Schon damals gab es massive Kritik daran, dass die Gemeinschaft gegenüber Ankara viel zu nachgiebig sei; dass sie der Unterdrückung von Medien, Kritikern und Oppositionellen durch das Regime Erdogans zu wenig entgegensetze und kusche, weil das Migrationsproblem sonst erneut eskalieren würde.

Auf diese Hauptfrage haben die EU-Partner in einer ersten Irritation über den Putsch keinerlei Antwort gefunden. Hinter den Kulissen freilich brodelt es, berichten Insider aus dem Rat, und spätestens im Herbst soll eine Entscheidung darüber fallen, ob die Türkei von der Liste der Beitrittswerber wieder gestrichen wird – oder ob pro forma weiterverhandelt wird.

Dieses Vorgehen mag Moralisten der Außenpolitik hasenfüßig erscheinen. Aber es gibt sehr gute Gründe, warum die Europäer in der Union (und auch die Nato) gut beraten sind, kühlen Kopf zu bewahren und die Tür zu Ankara nicht gleich zuzuschlagen: EU und Nato brauchen die Türkei als Partner, auch in dieser schlimmsten Krise der wechselseitigen Beziehungen seit Jahrzehnten.

Brüssels diplomatische Antwort kann nicht Abwendung sein: Eine solche würde die Lage nur verschlimmern. Vielmehr zeigt sich, dass man in den vergangenen Jahren verabsäumt hatte, sich den Türken viel aktiver zuzuwenden, mit Kritik an Erdogan, Hilfe für die Opposition.

Die Türkei habe wegen ihrer geostrategischen Lage eine "enorme Narrenfreiheit", schrieb die Süddeutsche Zeitung. Damit muss die Union einige Zeit weiterleben – leider. (Thomas Mayer, 18.7.2016)