Nach und nach werden wir immer ein bisschen mehr wissen über den 18-jährigen Münchner, der erst neun Menschen und dann sich selbst erschossen hat. Einzelne Puzzleteile, die wahrscheinlich trotzdem nie ein fertiges Bild ergeben werden. Vielleicht Ärger mit Klassenkameraden, eine psychische Krise, Einsamkeit, die Einwanderungsgeschichte der Familie, die Faszination für den norwegischen Massenmörder Breivik, für deutsche und US-amerikanischen Schoolshooter, Spaß an Ballerspielen – und irgendetwas ganz anderes, das sich in seinem Inneren abspielte. 

Niemand wird jemals wissen, welche Teile wirklich wichtig waren für das persönliche Amok-Puzzlebild von Ali David S. Und vor allem nicht, wie diese Teile ineinander griffen, sodass er schließlich wirklich mordete. Nicht im Affekt, nicht virtuell am Computer, sondern geplant und in Echt.

Es gibt kein Muster, das Menschen automatisch zu Amokläufern macht. Millionen von Jugendlichen mit ähnlichen Biografien, Gewohnheiten und Problemen werden nie auf die Idee kommen, andere und sich selbst umzubringen. Das gleiche gilt auch für manch Terroristen, der sich aus Europa dem sogenannten "Islamischen Staat" anschließt oder nur zu ihm bekennt, wie der junge afghanische Flüchtling, der in Würzburg Zugreisende mit der Axt angegriffen hatte. Auch hier werden die Gründe dafür meistens nicht allein ideologischer Natur sein, sondern auch in der Psyche und in den sozialen Umständen des Einzelnen liegen.

Verbote und Kontrollen nützen wenig

Natürlich lohnt es sich, Sicherheitsmaßnahmen zu verbessern, wenn es Lücken gibt. Aber wir werden mit singulären Verboten oder Kontrollen nicht viele dieser Fälle verhindern können. Wenn Sicherheitspolitiker an der Spitze der Bundesregierung oder der bayerischen Landesregierung jetzt also Gesetze verschärfen oder die Bundeswehr zum Inlandseinsatz abkommandieren wollen, dann gaukeln sie etwas vor, was sie nicht können: Sicherheit garantieren. Thomas des Maizière, Joachim Herrmann oder Sigmar Gabriel leitet der verständliche Wunsch, irgendetwas zu tun. Aber ihre Gesten und Worte bleiben hilflos. Denn die deutschen Waffengesetze sind schon jetzt streng, und Ali S. beschaffte sich seine Waffe, soweit man bisher weiß, illegal.

Auch die besten Präventionsmaßnahmen – machen wir uns nichts vor – werden nicht alle Jugendlichen und noch weniger die Erwachsenen erreichen. Trotzdem sind sie das Richtige: Sie zielen darauf ab, das Leben für alle besser zu machen: ein Bewusstsein für Mobbing schaffen, Hilfe anbieten, wenn jemand in einer Krise feststeckt, die Krise überhaupt zu sehen und eventuell die Drohungen, die ein potentieller Amokläufer vorher schon durchsickern lässt, zu hören.

Mitgefühl? Haben wir natürlich vor allem für die Opfer, ihre Freunde und Familien und all jene, die das Massaker mit ansehen mussten. Es lohnt sich aber trotz der Monstrosität einer solchen Tat, auch den Täter zu bemitleiden. Weil ihm niemand helfen konnte einerseits. Andererseits aber auch um allen potentiellen Nachahmern zu zeigen: Hier ist ein gescheiterter, trauriger Mensch, kein Superheld, kein cooler Rächer in eigener Sache. Sondern einer, der vielleicht ein gutes Leben hätte haben können.

Den Täter ernst nehmen

Ja, Prävention ist wichtig, aber noch einmal: sie wird nicht alle erreichen. Ali S. hat offensichtlich das Buch Amok im Kopf von Peter Langman besessen. Ein Buch, das gerade die Erkenntnis transportiert, dass alle Schoolshooter nur eines eint: eine psychische Krise oder Krankheit. Es sollte zum Beispiel Lehrern helfen, mögliche Täter im Vorfeld zu erkennen. Ali S. nutzte möglicherweise ausgerechnet ein Buch zur Prävention, um sich auf den Amoklauf vorzubereiten statt nach Hilfe zu rufen. 

In Amok im Kopf sind die Biografien verschiedener Schoolshooter ausführlich beschrieben. Wie man ihnen hätte helfen können, kommt nur am Rande vor. Nicht alles, was wir wissen, sollten wir also in eine stimmige Geschichte gießen, die als Rollenvorbild dienen kann. Das ist auch ehrlicher, denn wir werden ja ohnehin nie das ganze Puzzlebild sehen. Zumindest sollten wir keine vollen Namen nennen und keine Bilder zeigen, rät der Präventionsexperte Jens Hoffmann.

Am Ende gibt es also nur eins, was sich wirklich lohnt: jeden einzelnen Menschen ernst nehmen, ob amokgefährdet oder nicht. Denn umgekehrt gilt: Wie viele dieser Fälle verhindert wurden, weil eine Lehrerin, ein Nachbar oder eine große Schwester sich für einen verzweifelten Menschen interessiert hat, werden wir auch nie erfahren. Weil Gewaltfantasien Fantasien blieben. Das Leben wieder eine Perspektive bekam.