Kolumne

Von Israel lernen

Die Terroranschläge von Paris und Nizza erfordern ein Umdenken der Europäer beim Thema Sicherheit. Viel lernen können sie dabei von Israel.

Carlo Strenger
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Carlo Strenger ist Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv. In seiner Kolumne setzt er sich gerne zwischen die Stühle – besonders beim Thema Nahostpolitik.

Carlo Strenger ist Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv. In seiner Kolumne setzt er sich gerne zwischen die Stühle – besonders beim Thema Nahostpolitik.

Ich war nicht überrascht, als sich herausstellte, dass der Attentäter von Nizza den Anschlag, der 84 Menschen das Leben gekostet hat, monatelang mit Komplizen vorbereitet hatte. Nach über zwölf Jahren in der Terrorforschung habe ich von meinen Kollegen, die sich sowohl mit Europa als auch mit dem Nahen Osten beschäftigen, viel gelernt über die zentrale Rolle, die nicht nur Grossorganisationen wie der Islamische Staat (IS) spielen, sondern auch die Kleingruppendynamik, die potenzielle Selbstmordterroristen motiviert.

Die Gedenkstätte an der Strandpromenade in Nizza. (Bild: Jean-Pierre Amet / Reuters)

Die Gedenkstätte an der Strandpromenade in Nizza. (Bild: Jean-Pierre Amet / Reuters)

Leider deutet alles darauf hin, dass die Terrorwelle der letzten zwei Jahre erst der Beginn war. Der IS hat eine klare Zielsetzung: Die Organisation will die islamische Welt vollkommen vom Westen abschneiden. Ihre Ideologie besagt, der Bereich, in dem der Islam mit anderen Kulturen interagiere, müsse ausradiert werden.

Wie dieses Ziel zu erreichen ist, wird im Strategiedokument «The Management of Savagery» («Die Verwaltung der Barbarei») beschrieben, an dem sich auch der IS orientiert. Abu Bakr Naji, ein führender Ideologe der Kaida, hat es verfasst, seit 2004 ist es online. In dem Handbuch wird argumentiert, dass westliche Gesellschaften leicht durch systematisch gesteuerten Terror destabilisiert werden können. In Anbetracht dessen, dass eine wachsende Zahl von im Irak und in Syrien ausgebildeten Terroristen nach Europa zurückgekehrt ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Anschläge von Paris, Brüssel und jetzt Nizza nur der Anfang waren: Der IS mag im Nahen Osten an Terrain eingebüsst haben, doch die Organisation ist weiterhin effizient, kampffähig und strategisch sehr gewieft.

Ich weiss: Dies tönt für europäische Ohren bedenklich nach Polizeistaat.

Es zeigt sich auch immer wieder, dass die europäischen Sicherheitsdienste noch nicht auf den langen Kampf gegen den islamistischen Terrorismus eingestellt sind. Die Urheber des Attentats auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» waren den Behörden bekannt; es gab auch im Vorfeld viele Informationen über die Massenmörder in der Konzerthalle Bataclan, aber die Sicherheitsdienste haben nicht proaktiv eingegriffen. Dazu kommt, dass die verschiedenen Dienste weder innerhalb Frankreichs noch europaweit genügend zusammenarbeiten.

Israel lebt seit Jahrzehnten mit dem Terrorismus, und Europa wird von Israels Erfahrung lernen müssen. Es ist unverantwortlich, dass am Grossereignis des 14. Juli die Hauptpromenade in Nizza nicht für den Verkehr gesperrt wurde, was in Israel bei jedem Grossanlass der Fall ist. Leider wird es wohl auch bald in Europa nötig sein, die Eingänge öffentlicher Einrichtungen mit Sicherheitskontrollen auszustatten.

Ich weiss: Dies tönt für europäische Ohren bedenklich nach Polizeistaat. Doch obwohl ich gewisse Aspekte der israelischen Politik scharf kritisiere, muss klar gesagt werden, dass Israel trotz seinen ständig auf Hochtouren arbeitenden Sicherheitsdiensten innerhalb der Grenzen von 1967 eine funktionierende, sehr lebendige liberale Demokratie ist. Die Sicherheitsdienste werden sowohl parlamentarisch als auch durch die Justiz überwacht.

Europa braucht eine drastische Verschärfung der Sicherheitsmassnahmen. Dies muss im öffentlichen Diskurs deutlich gemacht werden. Wenn die gemässigten politischen Kräfte nicht klar Verantwortung übernehmen, werden illiberale Rechtspopulisten, welche nicht die Sicherheit erhöhen, sondern die liberale Demokratie gefährden, für die Wählerschaft immer attraktiver.