Kommentar

Der politische Tod eines Predigers

Viele Fragen bleiben offen nach dem Putschversuch in der Türkei. Doch nur wenige bezweifeln, dass die Bewegung von Fethullah Gülen ihre Hände im Spiel hatte. Ist Erdogans stärkster Rivale am Ende?

Daniel Steinvorth
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Am 15. Juli versuchten türkische Offiziere erfolglos, die Macht an sich zu reissen. Seither lässt Erdogan sein Land «säubern». (Bild: Emilio Morenatti / AP)

Am 15. Juli versuchten türkische Offiziere erfolglos, die Macht an sich zu reissen. Seither lässt Erdogan sein Land «säubern». (Bild: Emilio Morenatti / AP)

Es sieht nicht gut aus für Fethullah Gülen. Der «Hodscha Effendi» oder «ehrwürdige Lehrer», wie ihn seine Anhänger nennen, scheint keine Freunde mehr zu haben im politischen Ankara. Nach der türkischen Regierung forderte in dieser Woche auch der Chef der grössten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, von den USA, den berühmten, im Gliedstaat Pennsylvania lebenden Prediger an die Türkei auszuliefern. Ihm schloss sich der Parteiführer der rechtsextremen MHP, Devlet Bahceli, an. Die «Fetö», die «Fethullahistische Terrororganisation», habe das Volk verraten, sagte Bahceli. Mit dem Begriff «Fetö» hatten bisher nur Präsident Recep Tayyip Erdogan und regierungstreue Kreise die Gülen-Bewegung gebrandmarkt. Auch der Kurdenführer Selahattin Demirtas liess keinen Zweifel daran, dass der vereitelte Staatsstreich vom 15. Juli 2016 ein Werk von Gülenisten gewesen sein muss. Man habe es dieses Mal mit «keiner weiteren bizarren Verschwörungstheorie» des Präsidenten zu tun, schrieb der Erdogan-kritische Publizist Mustafa Akyol in der «New York Times». Es gebe eine dunkle Seite der Bewegung, von der viele Anhänger Gülens nichts wüssten.

Der Prediger dementierte frühzeitig, von den Putschplänen gewusst, und erst recht, sie orchestriert zu haben. Sollten wirklich «Hizmet»-Anhänger dahinterstecken, schrieb Gülen mittlerweile ebenfalls in einem Gastbeitrag für die «New York Times», so hätten sie seine Ideale verraten. Als «Hizmet» (Dienst) bezeichnet sich die sich auf ihn berufende Bewegung selber. Er sei sein Leben lang für Frieden und Gewaltlosigkeit eingetreten, teilte Gülen mit. Er habe selbst unter vier Putschen in der Türkei gelitten und wünsche diese Erfahrung niemandem. Die USA müssten der Versuchung unbedingt widerstehen, ihn in ein Land auszuliefern, wo despotische Zustände herrschten und er mit keinem fairen Prozess rechnen dürfe. Angesichts der massenhaften Verhaftungen und Entlassungen Zehntausender, der Schliessung von Schulen, Universitäten, Stiftungen und der Foltervorwürfe gegenüber der Polizei dürfte Gülen damit recht behalten. Von der «grössten Hexenjagd in der türkischen Geschichte» spricht der «Cumhuriyet»-Journalist Can Dündar, von einer «zivilen Diktatur» die kemalistische Opposition. Dennoch unterstützt sie das Auslieferungsgesuch der Regierung für den Prediger, verhallen die Dementis aus Pennsylvania scheinbar ungehört. Ist dies das Ende der Bewegung von Fethullah Gülen?

Ein natürlicher Verbündeter des Westens?

Zumindest für den politischen Arm der Bewegung dürfte dies gelten. Dass er überhaupt existiert, wird von etlichen «Hizmet»-Anhängern freilich abgestritten. Sie verweisen darauf, dass es eine feste Mitgliedschaft nicht gebe und somit keine festen Strukturen. Als eine ausschliesslich zivilgesellschaftliche Bewegung will sich die «Hizmet» verstanden wissen, die sich nur den Ideen nach auf ihren charismatischen Führer berufe. Dabei verhehlen Gülens Anhänger nicht, aus religiösem Antrieb zu handeln. Ihr Netzwerk aus Schulen, Nachhilfezentren, Stiftungen und anderen Einrichtungen, das sich weit über die Türkei hinaus auf über 140 Länder ausgedehnt hat, erfülle die Ideale von Bildung und sozialem Engagement, die Gülen in seinen Büchern anpreist. In der türkischen Diaspora, vor allem in Europa und den USA, erkennen viele diese Rolle durchaus an. Dort gelten die Absolventen von Gülen-Schulen als überdurchschnittlich gebildet, sind die frommen, aber gut integrierten Muslime gerngesehene Ansprechpartner für die Politik. Es ist mit Sicherheit dieses eine Gesicht der Gülen-Bewegung, das dem Netzwerk auch zu einem positiven Image verholfen hat. Berichte von Aussteigern, die die Organisation als erzkonservativ und sektiererisch beschreiben, vergleichbar mit Scientology oder Opus Dei, konnten das Bild nur geringfügig trüben. Eher überwog der Eindruck, mit den Gülenisten natürliche Verbündete gegenüber radikalen islamischen Strömungen innerhalb der Einwanderer-Communitys gefunden zu haben. So signalisierte der Westen auch im innertürkischen Machtkampf Solidarität. Wenn es in dem wichtigen Land an Europas Südostflanke schon eine Kraft gab, die dem immer autoritärer werdenden Präsidenten offenkundig Paroli bieten konnte, die ihn kritisierte, wenn dieser jugendliche Demonstranten niederknüppeln liess oder die Beziehungen zu Israel auf Eis legte, sollte man in diese Kraft dann nicht Hoffnungen setzen?

Wie aber sieht das andere Gesicht der Bewegung aus? Für den deutschen Türkei-Experten Günter Seufert steht die «zivilgesellschaftliche Mission» der Gülenisten ebenso ausser Frage wie deren «ausgeprägter politischer Gestaltungswille». Zwar wollte der 1941 geborene Geistliche den säkularen türkischen Staat anders als die radikalen Islamisten nie mit Gewalt bekämpfen. Ein zentrales Anliegen Gülens, so Seufert, sei es aber gewesen, «eine Elite heranzubilden, die intellektuell in der Lage ist, den Staat zu leiten und in der Konkurrenz mit dem Westen zu bestehen». Gülen, dessen Karriere begann, als ihn die türkische Religionsbehörde 1959 zum Predigen in die Grenzstadt Edirne schickte, wusste sich denn auch die meiste Zeit mit dem Staat zu arrangieren. Als die Putschistenführer von 1980 dem Islam mehr Gewicht verliehen, um die Linke zu schwächen, konnte sich neben den vielen religiösen Vereinen und Stiftungen auch das Netzwerk von Gülen frei entfalten. Ironischerweise waren es damit ausgerechnet die kemalistischen Generäle, die das Erstarken einer «islamischen Bourgeoisie» in der Türkei auslösten – jener Bevölkerungsgruppe, die in Erdogan später einen geeigneten politischen Führer finden sollte und in Gülen einen zeitgemässen Prediger. Ob der «Hodscha Effendi» unter der Militärjunta wirklich so litt, wie er in seinem Beitrag schrieb?

Dramatischer Bruderkrieg

Klar ist, dass unter den Hunderttausenden von Gülens Anhängern in der Türkei zahllose dem Aufruf, im Staat Karriere zu machen, folgten und sich bereits Anfang der neunziger Jahre Seilschaften in der türkischen Bürokratie bildeten. Niemand bezweifelt heute, dass im Polizeiapparat, aber auch in der Justiz und beim Militär Gülenisten Zugang fanden. Nur über die Zahlen besteht Ungewissheit – was angesichts der bewussten Nicht-Zurschaustellung ihrer religiösen Identität nicht verwundert. Für Erdogan aber bestand genau hier ein Vorteil. Seine 2002 an die Macht gekommene Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) war dringend auf Verbündete im Staatsapparat angewiesen, um sich vor dem Zugriff seiner kemalistischen Gegner zu schützen. Die Angst, entmachtet zu werden, begleitete die AKP von Beginn an. Sie begründete die Allianz zwischen Gülen und Erdogan; eine Allianz, die vollends in Erscheinung trat, als von 2007 an die grössten Widersacher der AKP mit einer grossangelegten, rechtsstaatlich äusserst fragwürdigen Polizeioperation aus dem Weg geräumt wurden, kemalistische Regierungskritiker, Akademiker, hochrangige Offiziere. Ohne Gülen hätte Erdogan seine Machtposition niemals festigen können.

Neun Jahre später haben der Prediger und der Präsident ihr gemeinsames Ziel einer islamischeren Türkei zwar erreicht. Ihr Bündnis aber ist Geschichte, zerbrochen an dramatischen Meinungsverschiedenheiten über den innen- und aussenpolitischen Kurs der Türkei. Was mit Kritik an Erdogan begann, mündete in Korruptionsermittlungen gegen das Umfeld des Präsidenten und einer Einstufung der Gülenisten als Terrororganisation. Ausgerechnet ein innerislamischer Bruderkrieg – und nicht etwa der jahrzehntealte Gegensatz zwischen Islamisten und Kemalisten – brachte das Land an den Rand des Abgrunds. War der Putschversuch vom 15. Juli das letzte Aufbegehren der Gülenisten? Eine andere Geschichte ist in der Türkei kaum noch zu hören. Allenfalls einige Hardcore-Kemalisten, sagen manche, könnten mit Gülen-treuen Offizieren gegen Erdogan paktiert haben. Ein «letztes Zucken» nannte der Journalist Can Dündar den Umsturzversuch – schliesslich standen für August die letzten Personalentscheide aus dem Hohen Militärrat an, wo man sich der verbliebenen Gülenisten wohl entledigt hätte. Die massiven «Säuberungen» nach dem Putschversuch aber treffen die Bewegung ungleich härter. Und es ist fraglich, ob sie sich davon jemals erholen wird.