Die Türkei schreibt in diesen Tagen ihre Geschichte weiter, und sie tut das unter dem argwöhnischen Blick der Europäer. Die mit Abstand wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Partner der Türkei haben es satt mit Tayyip Erdoğan. Dass die Türken für ihren Widerstand gegen die Putschisten bisher nicht die Anerkennung aus Europa erhalten haben, die sie verdienen, liegt an ihrem Staatspräsidenten.

Erdoğans autoritärer Regierungsstil, die zunehmende Gleichschaltung von Staat und Gesellschaft und die Eliminierung politisch Andersdenkender in der Türkei sind nun seit mehreren Jahren zu beobachten. Erdoğans "Gegenputsch" nach dem gescheiterten Coup vom 15. Juli scheint deshalb nur den einen Schluss zuzulassen: Die Türkei ist auf dem Weg in die Diktatur. Doch noch ist dies nicht entschieden.

Es war politisch klug von den Oppositionsführern der Sozialdemokraten und der Rechtsnationalisten, Erdoğans Einladung anzunehmen und auf der Großkundgebung in Istanbul am vergangenen Sonntag zu sprechen. Die Opposition bleibt damit im Spiel. Sie zwingt den Präsidenten, für einen Moment zumindest den Fortbestand der parlamentarischen Demokratie in der Türkei zu akzeptieren.

Der gemeinsame Auftritt von Regierung und Opposition ist für die Türken – nicht für die Minderheit der Kurden, deren Partei einmal mehr ausgeschlossen wurde – ein unerhört starkes Signal. Nach 14 Jahren Alleinregierung und bewusster Spaltung der Gesellschaft reichen Erdoğan und seine konservativ-islamische AKP der Opposition plötzlich die Hand. Natürlich will Erdoğan dafür etwas bekommen.

Nach außen, den Europäern gegenüber, sollte die "Großkundgebung für die Demokratie und die Märtyrer des 15. Juli" Geschlossenheit demonstrieren. Das türkische Volk steht zusammen, es verteidigt seine Demokratie, von Diktatur keine Spur, werte Europäer. Nach innen aber hat Tayyip Erdoğan ein ganz anderes politisches Kalkül.

Die Jagd auf angebliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen in Armee, Redaktionsstuben, Hochschulseminaren, Möbelfirmen, auf Polizeiwachen und Theaterbühnen – sprich in jeder Ecke der türkischen Gesellschaft – stellt Erdoğan und seine AKP vor ein ziemliches Problem: Fethullah Gülen war ihr Verbündeter. Jetzt aber soll der Prediger einen Putsch angezettelt und den türkischen Staat unterwandert haben. Da ist offenbar 14 Erdoğan-Regierungsjahre lang etwas sehr schiefgelaufen.

Sich öffentlich zu entschuldigen gehört nicht zur politischen Kultur in der Türkei. Für etwas die Verantwortung zu übernehmen, gar von einem Amt zurückzutreten, bedeutet in der Türkei Schwäche, und schwache Männer kann das Land nicht ertragen.

Tayyip Erdoğan scheint nun, nach dem gescheiterten Putsch, so stark, dass er es sich sogar leisten kann, um Entschuldigung zu bitten. Gott und Volk hat der türkische Staatspräsident um Vergebung gebeten, schnell dahingesagt in einem Nachsatz: Die wahre Natur der Gülen-Bewegung habe er, Erdoğan, leider nicht erkannt.

Um den einstigen politischen Glaubensbruder und dessen Anhänger rasch zu Terroristen zu stempeln, braucht der türkische Präsident die Fassade der demokratischen Geschlossenheit, der neuen Freundlichkeit gegenüber der Opposition. Die Fassade wird halten, solange sie Erdoğan nützlich ist. (Markus Bernath, 7.8.2016)