Der Sommer 2016 gehört nicht gerade zu den an internationalen Nachrichten ärmsten, den die Medien und deren Publikum erlebt haben. Manchmal macht sich so etwas wie Erschöpfung breit. Aber bei einem Thema wollen sich Ermüdungserscheinungen auf der Erregungsskala ganz und gar nicht einstellen: Das Wort "Türkei" ist für einen Teil der Öffentlichkeit, was das sprichwörtliche rote Tuch für den Stier ist. Und wenn dieses am Horizont erscheint, bleibt wenig Raum für Reflexionen.

Nun gibt es also das "Geheimpapier" mit den "brisanten" Einschätzungen der deutschen Bundesregierung zum Verhältnis der Türkei zu den Islamisten – die man allerdings in jedem halbwegs informierten Zeitungskommentar nachlesen kann. Das nachrichtlich Relevante an der Geschichte besteht höchstens darin, dass die Deutschen, denen man funktionierende Institutionen unterstellt, eine derartige Anfragebeantwortung mäßig professionell – ohne Einbindung des Außenamtes – abhandeln und dass das Dokument dann auch noch geleakt wird.

Aber zu den Vorwürfen: Die Nähe der türkischen Regierung zu den ägyptischen Muslimbrüdern, die Kritik an der Absetzung Mohammed Morsis durch das Militär, die Aufnahme flüchtiger Muslimbrüder sowie ihre Zusammenarbeit mit der Muslimbruderschaft zugerechneten Oppositionsgruppen in Syrien bestreitet nicht einmal sie selbst. Die AKP hat sich stets als Avantgarde der republikanischen islamischen Parteien gesehen.

Es zeugt allerdings von einem kurzen Gedächtnis, wenn sich heute niemand mehr erinnern kann, dass sowohl die EU als auch die USA mit der neuen politischen Kraft, die nach 2011 in Ägypten durch Wahlen nach oben gespült wurde – eben den Muslimbrüdern –, willig kooperierten. Der Umsturz 2013 und seine Folgen wurden kritisiert, die USA schränkten sogar ihre Militärhilfe ein.

Nicht dass die Nähe des Westens zu den Muslimbrüdern quantitativ oder qualitativ mit jener der Türkei mithalten könnte. Aber eine "brisante" Information ist diese Nähe nicht und auch kein Beweis für Terrorverstrickungen der Türkei. Und die syrische Opposition, die der Westen unterstützte, wurde lange Zeit völlig sichtbar von den syrischen Muslimbrüdern dominiert – jetzt sind es ungleich radikalere Kräfte –, ohne dass das ihre Sponsoren besonders gestört hätte.

Die Hamas, als Terrororganisation eingestuft – anders als die Muslimbruderschaft in Ägypten und Syrien –, ist natürlich ein spezielles Kapitel. Sie war für Tayyip Erdogan, schon als er noch nicht Präsident war, stets auch ein Vehikel für seine Regionalpolitik. Das gilt heute, angesichts der Spannungen der Türkei mit Ägypten – an das der Hamas-dominierte Gaza-Streifen grenzt –, mehr als je zuvor. Israel, das über die Problematik besser Bescheid weiß als jedes andere Land, ist dennoch bereit, für die Normalisierung seiner Beziehungen zu Ankara Geld zu zahlen. Wenn uns der deutsche Bundesnachrichtendienst etwas wirklich Spannendes mitteilen wollte, dann wäre das, wie er die Zukunft der israelisch-türkischen Beziehungen nach dem Putschversuch beurteilt.

Die Türkei hat mit ihrer zwiespältigen Haltung zu radikalen islamistischen Gruppen, die ihr weniger gefährlich schienen als die Kurden, in Syrien und bei sich selbst viel Schaden angerichtet. Das ist ein echtes Thema. Andere Themen sagen mehr über jene aus, die sich darüber aufregen, als über das Objekt der Aufregung selbst. (Gudrun Harrer, 17.8.2016)