Einfach war es ja nie. Zwei Türkenbelagerungen und die Heilige Liga hängen im kollektiven Gedächtnis der Nation. Als die Entscheidung über den Beginn der Beitrittsverhandlungen anstand, war es die österreichische Außenministerin, die sich in Brüssel bis zum Schluss querlegte. Und seit die FPÖ scheinbar unaufholbar die Umfragen anführt und die Koalitionsparteien vor sich hertreibt, ist die Türkei zu einem roten Tuch geworden. Einmal kurz wedeln, und die Regierung schäumt.

Aber dann sind auf der anderen Seite, in Ankara, die Wortmeldungen in den vergangenen Wochen so unerhört und so bereitwillig aggressiv geworden, dass sich für die Spannungen zwischen Österreich und der Türkei eine andere Lesart aufdrängt: Hier wird eine ersatzweise Auseinandersetzung zwischen Ankara und der Europäischen Union geführt, ein politischer Stellvertreterkrieg um Status und Zukunft der Türkei.

Die Heftigkeit der Reaktionen aus Ankara – von der um Beifall heischenden "Verpiss dich, Ungläubiger"-Meldung des Erdoğan-Beraters Burhan Kuzu bis zur Rückberufung des türkischen Botschafters diese Woche – legen den Schluss nahe, dass die türkische Führung ein Exempel statuieren will.

Dem kleinen, scheinbar wenig einflussreichen EU-Mitgliedstaat Österreich wird eine Lektion erteilt, die sich Ankara den großen Ländern Deutschland, Frankreich oder Italien nicht zu erteilen traut: Kritik an unangemeldeten Pro-Erdoğan-Demonstrationen in Wien sei "Rassismus"; den Stopp der Beitrittsverhandlungen zu fordern "Islamfeindlichkeit"; eine Kundgebung der Kurden zuzulassen gleichbedeutend mit regierungsamtlicher Unterstützung von Terrorismus.

Nicht dass die Türkei-Politik der österreichischen Regierung ohne Makel wäre: Ihr wahlpolitisches Kalkül ist offensichtlich, ihre Nachlässigkeit ist es nicht weniger. Eine – um es vorsichtig auszudrücken – PKK-nahe Kundgebung nach drei Terroranschlägen in der Türkei in derselben Woche mit Verweis auf die Versammlungsfreiheit unkommentiert ablaufen zu lassen ist ein Fehler. Keinen Minister nach Ankara zu schicken, um nach dem Putsch vom 15. Juli Solidarität mit der gewählten türkischen Regierung zu zeigen und den Mut der türkischen Bürger auf der Straße zu würdigen – sie mögen Erdoğan-Wähler gewesen sein oder nicht, was kümmert es? –, ist ein bitteres Versäumnis.

Und doch führt Wien nun in diesen Wochen eine politische Auseinandersetzung um die Türkei an, die sich die anderen in der EU im Moment nicht leisten wollen. Christian Kern, der Kanzler, ist ja wohl nicht der einzige Regierungspolitiker in der Union, der glaubt, der nun im zwölften Jahr stehende Beitrittsprozess der Türkei sei eine Illusion. Sebastian Kurz, der Außenminister, ist wohl nicht der Einzige im Kreis der Chefdiplomaten der EU, der Ankaras Stil als anmaßend empfindet und die Kluft zwischen Demokratie alla turca und EU-Standard als enorm.

Macht dies deshalb Kern und Kurz zu Realisten im Umgang mit der Türkei? Und die anderen in der EU zu Opportunisten, die Erdoğans Tiraden und seinen autoritären Herrschaftsstil ertragen und nur an das Flüchtlingsabkommen denken? Nicht wirklich. In der Türkei nach dem Putsch gibt es unerwartete Versuche politischer Konsensbildung zwischen Regierung und Opposition. Ihren Ausgang sollte man abwarten. (Markus Bernath, 23.8.2016)