Es war am 31. August 2015, kurz nach 13.30 Uhr, und die Stimme der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel klang fest. "Ich sage ganz einfach, Deutschland ist ein starkes Land", erklärte sie bei ihrer alljährlichen Sommerpressekonferenz in Berlin. Und dann kam der Satz, der in die Geschichtsbücher einging: "Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das."

Ein Jahr ist nun vergangen, und vordergründig ist die Bilanz positiv: Deutschland hat es geschafft, all die vielen Menschen aufzunehmen, ihnen ein Dach über dem Kopf und Essen zu geben und sie auch medizinisch zu versorgen. Doch dauerhafte Lösungen gibt es noch nicht. Integration im Alltag, in der Schule, am Arbeitsmarkt: Hier liegen die großen Brocken erst noch vor der Politik und auch vor der Zivilgesellschaft.

Wird Merkel selbst sich in einem Jahr noch darum kümmern? Oder lieber – was man sich kaum vorstellen kann – als Politpensionistin in ihrem Brandenburger Garten werkeln und merkeln? Natürlich muss sich die deutsche Bundeskanzlerin ihren Zeitplan für Verkündungen, die ihre Zukunft betreffen, von niemandem diktieren lassen. Aber ein Jahr vor der Bundestagswahl wüssten viele Deutsche schon gern, ob die Chefin noch einmal antritt oder ob sie es anderen überlassen wird, die Folgen ihrer liberalen Asylpolitik zu bewältigen.

Merkel hat in ihrem politischen Leben viele einsame inhaltliche oder personelle Entscheidungen getroffen. Sie konnte es, weil die CDU ihr ergeben zu Füßen lag, weil sie in Deutschland unglaublich populär war, weil ohne sie in Europa gar nichts ging. Doch das Blatt hat sich gewendet. Wenige Wochen, bevor Merkel im Vorjahr ihre "Wir schaffen das"-Parole ausgab, hatte die CDU in Umfragen die absolute Mehrheit geknackt. Man scherzte schon erfreut, Merkel demnächst eine Regentschaft auf Lebenszeit antragen zu wollen.

Doch ein Jahr danach und ein Jahr vor der Wahl ist Merkel sehr einsam geworden. Nicht nur die CSU, von Ministerpräsidenten Horst Seehofer abwärts, ist nach wie vor auf Distanz. Auch SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel macht seit neuestem den Seehofer und fordert eine Obergrenze bei den Asylzahlen. Blickt man ins Ausland, so gibt es auch wenig Grund zur Freude. Im Gespräch mit osteuropäischen Regierungschefs ist Merkel keinen Schritt weitergekommen, keiner will Flüchtlinge aufnehmen.

Aus Österreich, das vor einem Jahr noch fest an der Seite Merkels stand, kommen harsche Töne. Auch wenn sie nicht von Kanzler Christian Kern, sondern von Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil stammen, sie zeigen ein Unbehagen, das sich in Deutschland längst auch in Umfragedaten manifestiert.

Nur 42 Prozent der Deutschen wollen eine vierte Amtszeit Merkels. Die lange Zeit so Erfolgsverwöhnte befindet sich in einer Art Abwärtsspirale. Sie spürt, dass ihr Rückhalt immer mehr bröckelt, und schiebt die Entscheidung über eine vierte Kandidatur hinaus.

Es muss noch nicht heute sein, auch nicht morgen, dass sich Merkel erklärt. Aber lange kann sie nicht mehr warten. Die Aufgabe, die vor Deutschland liegt, ist so gewaltig, dass baldige Klarheit nötig ist. Taktieren und Abwarten würde auch Merkel selbst (noch mehr) schaden – genauso wie jener Person, die nachfolgt, wenn Merkel selbst nicht mehr kann oder will. (Birgit Baumann, 29.8.2016)