Kommentar

Nicht nur Merkels Problem

Im Zentrum der europäischen Flüchtlingsdebatte steht die Kritik an Bundeskanzlerin Merkels Kurs. Die Ursachen der Krise liegen aber viel tiefer.

Peter Rásonyi
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Die von Bundeskanzlerin Merkel beschworene «Willkommenskultur» stand Deutschland gut zu Gesicht. (Bild: Sedat Suna / EPA)

Die von Bundeskanzlerin Merkel beschworene «Willkommenskultur» stand Deutschland gut zu Gesicht. (Bild: Sedat Suna / EPA)

Vor einem Jahr hat sie es zum ersten Mal gesagt: «Wir schaffen das.» Wenige Tage später, am 5. September 2015, fuhren die ersten Sonderzüge im Münchner Hauptbahnhof ein und brachten Tausende von unregistrierten Flüchtlingen aus Budapest und Wien nach Deutschland.

Die von Bundeskanzlerin Merkel beschworene «Willkommenskultur» stand Deutschland damals gut zu Gesicht. Unvergessen sind die überwältigende Anteilnahme und Hilfsbereitschaft zahlloser Bürger sowie die Effizienz der spontanen Hilfeleistungen an Hunderttausende Menschen, die Kriegsgreueln, Elend und öden Flüchtlingslagern in ihrer Heimatregion entronnen waren.

Steht Europas vielbewunderte und nun immer öfter auch getadelte starke Frau tatsächlich so allein im Zentrum von Europas Flüchtlingskrise?

Heute beherrschen die vielzitierten Worte der Kanzlerin die politischen Debatten in Europa nicht weniger als damals. Schaffen wir das wirklich? Wann schaffen wir es und zu welchem Preis? Wollen wir es eigentlich schaffen? Nur schon das zeigt, dass es der Kanzlerin nicht gelungen ist, das Land hinter ihrer Flüchtlingspolitik zu vereinen. In der Europäischen Union ist diese geradezu zu einem politischen Spaltpilz geworden. Ein rebellisches Ostmitteleuropa zeigt der Kanzlerin die kalte Schulter. Das kleine Österreich entzieht ihr forsch die Initiative. Italien klagt, Griechenland darbt. Und selbst im fernen Grossbritannien dürften die Bilder von Kontrollverlust, Zwietracht und Flüchtlingschaos auf dem Kontinent den im Juni vom Volk beschlossenen Austritt aus der EU befördert haben.

Aber steht Europas vielbewunderte und nun immer öfter auch getadelte starke Frau tatsächlich so allein im Zentrum von Europas Flüchtlingskrise? Wäre ohne Merkel alles anders? Kaum. Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass Europa schon vor Merkels berühmten Worten die Kontrolle über die Wanderbewegungen entglitten ist; nicht zuletzt wegen wachsender Finanznöte der Flüchtlingslager in Nahost. Ja, die deutsche Willkommenskultur dürfte die Migrationswelle noch vergrössert und im Oktober auf den Spitzenwert von über 200 000 Ankünften pro Monat getrieben haben. Und ja, die vorübergehende Aufgabe der Grenzkontrollen war ein Fehler. Sie hat das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung geschwächt und dazu beigetragen, dass auch einige islamistische Terroristen leichter nach Europa einreisen und ihr Unwesen treiben konnten.

Die politische Debatte darüber, wie Europa dieser Herausforderung begegnen will, steht erst in den Anfängen.

Aber schon vor Merkels Worten waren Hunderttausende von Migranten auf Europas mäandernder Balkanroute unterwegs. Hilflosigkeit und Kontrollverlust der nationalen und der europäischen Ordnungskräfte waren schon in vollem Gang. Erst die Wucht dieser Ereignisse hat Merkel überhaupt zu ihrer Intervention Ende August getrieben.

Die ab November über der Ägäis tobenden Herbststürme und, im März, die Schliessung der Balkanroute sowie der fragile Flüchtlingspakt mit der Türkei haben den Zustrom weiterer Flüchtlinge aus dem Nahen Osten weitgehend gestoppt. Doch über die gefährliche Mittelmeerroute, die von Afrika nach Europa führt, kamen in diesem Jahr bisher fast genauso viele Menschen wie im letzten Jahr. Das zeigt, dass die grundlegende Ursache der Flüchtlingskrise in keiner Weise beseitigt ist. Der riesige Unterschied zwischen Europa und den benachbarten Regionen bei Sicherheit und Wohlfahrt übt einen gewaltigen Sog aus. Dass sich Hunderttausende auf die riskante Reise machen, ist rational und verständlich. Moderne Kommunikationstechnik und eingespielte Schlepper-Systeme helfen zusätzlich. Der Migrationsdruck wird deshalb nicht nachlassen.

Die politische Debatte darüber, wie Europa dieser Herausforderung begegnen will, steht erst in den Anfängen. Jeder ernsthafte statt scheinheilige Lösungsansatz wirft harte und schmerzhafte Fragen auf – mit oder ohne Bundeskanzlerin Merkel.

Wie soll Europa mit der Flüchtlingskrise umgehen? Über diese Frage haben Auslandchef Peter Rásonyi und der Zuständige für Osteuropa, Ivo Mijnssen, mit den Lesern debattiert.

In der Kommentarspalte dieses Artikels können Sie den Austausch nach verfolgen.