Viktor Orbán ist ein fanatischer Fußballfan, der auch selbst mit Leidenschaft Fußball spielt. "Schneller Denker, schusswillig, gute Technik", schrieb sein Trainer über den offensiven Mittelfeldspieler, eher ein bulliger Typ, der im Zweifel vor der körperlichen Attacke am Gegner nicht haltmacht.

So wie der ungarische Premierminister dem Ball nachjagte, so scheint er nun Politik zu machen. Er versteht sie vor allem als Kampf – einst als Student gegen die Kommunisten, heute gegen alle, die sein von Christentum und Nationalismus geprägtes Weltbild nicht teilen. Den politisch Andersdenkenden soll nicht nur eine Niederlage zugefügt werden, sie sollen geschlagen werden, am besten vernichtend und im vollen Stadion, zum Gaudium einer grölenden Anhängerschaft.

Die Oppositionsparteien in Ungarn, kritische Medien oder die von seiner Fidesz-Partei über Jahre gemobbten Höchstrichter als Bewahrer der Verfassung können davon ein Lied singen. Orbán scheute seit 2010 vor fast nichts zurück, seine Macht auszuüben, seine Politik zu verbreitern. Und so handelte er auch auf europäischer Ebene, als die Migrationskrise ab Frühjahr 2015 zunächst im Mittelmeer vor Lampedusa und Monate später dann auf der Balkanroute aus dem Ruder lief.

Die Öffentlichkeit in der EU starrte damals noch wie gebannt auf das wankende Griechenland, aber nicht wegen der ständig wachsenden Zahl an irregulären Migranten in der Ägäis, sondern wegen des Grexit, des drohenden Ausscheidens aus der Währungsunion, des Zerfalls der Eurozone.

Der ungarische Premier hingegen war bereits damals der Erste, der vehement auf strikte "Abwehrmaßnahmen" an der EU-Außengrenze zu Serbien drängte; der beim EU-Gipfel im Juni 2015 im Kreis der Regierungschefs unverblümt ankündigte, dass er einen hohen Zaun bauen werde, um die Flüchtlinge auf der Balkanroute zu stoppen. Das nahm damals – Monate vor der Öffnung der Grenzen und dem hoffnungsfrohen Spruch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel ("Wir schaffen das") – niemand ernst.

Mehr als ein Jahr später muss man sagen: leider. Es wäre besser gewesen, Merkel (oder auch der damalige österreichische Bundeskanzler Werner Faymann) hätte Orbáns Einwände (und die von vielen anderen, die sich hinter ihm versteckten) nicht vom Tisch gewischt – sondern hätte ihm sofort mit einem Gegenkonzept geantwortet, etwa der Art: "Ja, wir müssen die Grenzen grundsätzlich schützen und kontrollieren. Aber gleichzeitig wollen wir ein umfassendes EU-Einwanderungs- und Flüchtlingskonzept erarbeiten, um den humanitären Verpflichtungen Europas gerecht zu werden. Kriegsflüchtlinge sollen immer Platz bekommen, illegale Migranten wollen wir gemeinsam zurückführen." Das ist bekanntlich nicht geschehen. Stattdessen präsentierte die Kommission hastig ein Verteilungssystem für in Italien und Griechenland Gestrandete. Es funktioniert bis heute nicht.

Stattdessen haben sich die Gräben zwischen den EU-Staaten in Sachen Migration eher vertieft. Viktor Orbáns Saat, dass es vor allem um Abwehr der Fremden gehe, nicht um Integration, ist aufgegangen. Er hat allen seinen Stempel aufgedrückt. Ohne Zweifel ist das Referendum für ihn eine innenpolitische Niederlage. Aber man soll sich nicht täuschen: Die EU-Politik ist inzwischen und vorläufig ganz auf Abwehr von Migranten ausgerichtet, nicht auf Aufnahme – zulasten der Flüchtlinge. (Thomas Mayer, 3.10.2016)