Kommentar

Italien bleibt Italien

Ein Ja zum anstehenden Referendum ist womöglich die bessere Wahl, weil es die Unsicherheit und damit die Risiken limitiert. Aber auch ein Nein wäre für die Italiener keine Katastrophe.

Ermes Gallarotti
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Ein Mann macht sich in Rom für ein Nein zum Referendum über die Verfassungsreform stark. (Bild: Alessandro Bianchi / Reuters)

Ein Mann macht sich in Rom für ein Nein zum Referendum über die Verfassungsreform stark. (Bild: Alessandro Bianchi / Reuters)

Für Matteo Renzi wird es eng. Hält man sich an die Prognosen, wird am 4. Dezember eine Mehrheit der Italiener das Referendum über die Verfassungsreform ablehnen – und damit ein Projekt bachab schicken, an das der Regierungschef seine politische Zukunft geknüpft hat. Aus seiner Sicht ist die Annahme der Reformvorschläge eine unerlässliche Bedingung, um das in sich erstarrte Italien wieder in Gang zu bringen. Im Kern sehen die Vorschläge vor, die Gleichstellung von Abgeordnetenhaus und Senat aufzuheben und Ersteres zur alleinigen gesetzgebenden Kammer zu erheben. Zudem sollen eine Reihe von Kompetenzen von den Regionen hin zum Zentralstaat verlagert werden. In Kombination mit einem Wahlgesetz, das der stimmenstärksten Partei eine solide Mehrheit im Abgeordnetenhaus sichert, sollen diese Änderungen der Exekutive mehr Macht geben – mehr Macht, um endlich den wirtschaftlichen Reformen zum Durchbruch zu verhelfen, die das Land so dringend braucht.

Was geschieht, wenn das Referendum an der Urne scheitert? Je deutlicher ein allfälliges Nein ausfällt, umso eher wird sich der als «rottamatore» («der Verschrotter») angetretene Renzi selbst verschrotten müssen. Ein Rücktritt des Ministerpräsidenten würde die politische und wirtschaftliche Unsicherheit über das Nachher erhöhen, auch wenn es nicht sofort zu Neuwahlen käme. Allein die Aussicht, dass spätestens bei der nächsten Parlamentswahl 2018 eine populistische Protestbewegung wie Beppe Grillos Movimento Cinque Stelle Regierungsverantwortung übernehmen könnte, muss beunruhigen. Der ehemalige Komiker hält nichts von schmerzhaften Strukturreformen. Vielmehr soll die Rückkehr zu Wachstum und Wohlstand über eine Stimulierung der Binnennachfrage erfolgen. Im Gespräch sind die Einführung eines staatlichen Grundeinkommens und die Abkehr von den einengenden Stabilitätsvorgaben Brüssels.

Wenig Spielraum

All das deutet auf eine expansive Finanzpolitik hin, die sich das Land nicht leisten kann. Italien schiebt einen Schuldenberg vor sich her, der mittlerweile über 130 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ausmacht – in der Euro-Zone steht in dieser Hinsicht nur Griechenland schlechter da. In schlechten Zeiten nimmt die Verschuldung regelmässig zu, und in guten Zeiten gelingt es nicht, die Schuldenlast zu reduzieren. Allein dem Umstand, dass Geld derzeit kaum etwas kostet, ist es zu verdanken, dass die Bedienung der Schulden keinen stärkeren Leidensdruck erzeugt.

Aber das könnte sich bei einer Ablehnung des Referendums schlagartig ändern. Bereits heute verlangen Käufer italienischer Staatsanleihen eine Risikoprämie in Form einer höheren Rendite gegenüber den Titeln finanzpolitisch disziplinierterer Länder. Der sogenannte Spread, der für die Renditedifferenz zwischen italienischen und deutschen Referenzanleihen steht, weitet sich aus. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Bedienung der Staatsschulden teurer wird. Vor einem solchen Hintergrund die Binnenwirtschaft über höhere Staatsausgaben ankurbeln zu wollen, hiesse wohl, eine neuerliche Staatsschuldenkrise zu riskieren und die Währungsunion einem neuerlichen Stresstest auszusetzen. Italien wäre wohl zu gross, um im Krisenfall gerettet zu werden.

Die Bürger erleben einen solchen Staat, der sie mit immer neuen Steuern drangsaliert, ohne eine
erkennbare Gegenleistung zu erbringen, als Plage.

Aber nicht nur der finanzpolitische Spielraum des Staates ist äusserst begrenzt. Auch die italienischen Banken kämpfen mit argen Problemen. Fast ein Jahrzehnt nach dem Ausbruch der Finanzkrise, nach einer Reihe halbherzig umgesetzter Reformen, sitzen sie auf notleidenden Krediten von rund 360 Milliarden Euro, wovon 200 Milliarden Euro als unwiederbringlich verloren gelten. Zum Vergleich: Das aggregierte Eigenkapital in den Bilanzen der Banken summiert sich auf 225 Milliarden Euro. Ein Nein zum Referendum könnte die wenig profitablen Banken mit vergleichsweise dünnen Kapitaldecken und einer ramponierten Reputation neuerlichen Belastungen aussetzen. Denn Unsicherheit ist jedenfalls Gift für ein ohnehin geschwächtes Finanzsystem.

Also auf ein Ja zum Referendum hoffen? Bei aller Unsicherheit, die ein Nein mit sich bringen würde, darf nicht vergessen werden, dass auch ein Plazet zur Verfassungsreform die wirtschaftlichen Probleme des Landes kaum lösen würde. Das italienische Parlament verabschiedet schon heute, auch ohne die angestrebte Deblockierung des Gesetzgebungsprozesses, mehr als genug Erlasse. Und läge das Problem allein bei einer zu geringen Macht der Exekutive, müssten die Bäume in einem stark zentralisierten Land wie Frankreich, das von einem mit vielen Vollmachten ausgestatteten Präsidenten geführt wird, geradezu in den Himmel wachsen. Aber das tun sie nicht. Dass hingegen auch dezentral organisierte Länder gedeihen können, zeigt das Beispiel der Schweiz.

Was Italien wirklich braucht, sind Reformen, die das Hauptproblem des Landes angehen: das seit zwei Jahrzehnten anämische Wachstum der Wirtschaft. Renzi hat gerade in dieser Hinsicht auffallend bescheidene Fortschritte erzielt. Widerstände in seiner eigenen Partei, das Zurückschrecken vor unpopulären Massnahmen, aber auch die von der Europäischen Zentralbank hartnäckig niedrig gehaltenen Zinsen haben den Regierungschef davon abgehalten, die Konsolidierung der Staatsfinanzen und des wackligen, überdimensionierten Banksystems mit mehr Elan voranzutreiben.

Der Staat als Plage

Ein Staat, der kein Geld in der Kasse hat, ist nur sehr beschränkt in der Lage, wachstumsfreundliche Rahmenbedingungen und Infrastrukturen zu gewährleisten, die Hoffnung in eine bessere Zukunft wachzuhalten. Die Bürger erleben einen solchen Staat, der sie mit immer neuen Steuern drangsaliert, ohne eine erkennbare Gegenleistung zu erbringen, als Plage. Da darf es nicht erstaunen, wenn Bauern auf waldnahen Feldern nur deshalb Mais anpflanzen, um später Entschädigungen für Wildschweinschäden geltend zu machen. Oder Anwälte darauf bestehen, ihr Honorar in bar und ohne Quittung entgegenzunehmen. Sich vom Staat auf diese Weise Geld zurückzuholen, gilt nicht etwa als verwerflich, sondern als clever. Ein Angestellter verdient heute inflationsbereinigt nicht mehr als in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, muss womöglich um den Marktwert seiner Wohnung fürchten, weil diese in einem zusehends von Zuwanderern bewohnten Quartier liegt, und kann nicht davon ausgehen, dass sein Erspartes auf der Bank sicher ist.

Ebenso wie den Bürgern macht die sklerotische Wirtschaft auch den Unternehmen zu schaffen. Dies gilt vor allem für inlandorientierte Betriebe, die ihre Produkte und Dienstleistungen nicht in dynamischere Auslandmärkte exportieren. Selbst in den Stadtzentren stehen immer mehr Läden leer. Es zieht auch kaum ausländische Konzerne nach Italien. Gemessen am jüngsten Global-Competitiveness-Index des World Economic Forum, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes einschätzt, liegt Italien auf dem 44. Rang, hinter Staaten wie Aserbaidschan, Litauen oder Panama. Als abschreckend gelten vor allem die hohen Unternehmenssteuern und die überbordende Bürokratie.

Alles in allem ist ein Ja am 4. Dezember die etwas bessere Alternative, weil es mit weniger Unsicherheit und damit auch mit weniger Risiken verbunden ist. Aber zu glauben, dass danach dem Aufschwung nichts mehr im Wege stünde, wäre blauäugig. Auch ein Nein käme keiner Katastrophe gleich. Die Italiener haben seit Kriegsende 63 Regierungen überdauert. Sie haben gelernt, mit instabilen Verhältnissen zu leben. Die Gefahr bleibt, dass sie 2018, wenn die nächsten Parlamentswahlen anstehen, den Sirenengesängen der Populisten erliegen. Deren Versprechungen hören sich verführerisch an, bringen das Land aber nicht weiter.