Kommentar

China tickt in einem anderen Takt

Am WEF unterstreicht Xi Jinping Chinas Weltmachtanspruch. Ein isolationistischer US-Präsident und ein zweifelndes Europa könnten seine Position weiter stärken. Doch Xi hat noch andere Baustellen.

Nina Belz
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Die Hoffnung, dass China westlicher würde, wenn man es nur besser einbindet, hat sich nicht erfüllt. Xi Jinping hat eigene Träume und Pläne. (Bild: Qilai Shen / Bloomberg)

Die Hoffnung, dass China westlicher würde, wenn man es nur besser einbindet, hat sich nicht erfüllt. Xi Jinping hat eigene Träume und Pläne. (Bild: Qilai Shen / Bloomberg)

Zum ersten Mal seit achtzehn Jahren besucht ein chinesischer Staatschef die Schweiz. Aber der Empfang in Bern ist für Xi Jinping nicht der Höhepunkt seiner Reise. Xi ist für Auftritte auf der Weltbühne in die Schweiz gekommen: bei der Uno und der Weltgesundheitsorganisation in Genf, vor allem aber in Davos. Wenn er am Dienstag, dem Eröffnungstag des World Economic Forum (WEF), vor rund 3000 Vertretern aus Politik und Wirtschaft spricht, hat er die Aufmerksamkeit für sich – nicht nur, weil er der erste chinesische Präsident ist, der am WEF teilnimmt. Xi ist da, während andere fehlen: die deutsche Kanzlerin, das französische und das russische Staatsoberhaupt – und vor allem ein amerikanischer Präsident. Auch wenn es für diese Absenzen innenpolitische Erklärungen gibt: Die Chinesen werden darin genüsslich Symbolik lesen. Wenn die alten Mächte fehlen, strahlt die neue umso heller. Und was sollen Europa und die Welt darin sehen?

Des Westens Glück

Der Titel einer Weltwirtschaftsmacht ist China nicht mehr abzusprechen. Schon seit einigen Jahren trägt kein Land mehr zum globalen Wachstum bei; das hat sich auch nicht geändert, seit die chinesische Wirtschaft langsamer wächst. China ist nicht nur zum grössten Empfänger von ausländischen Investitionen geworden; das Land hat auch den eigenen Wirkungsraum über seine Nachbarschaft hinaus vergrössert. Vor allem seit der Finanzkrise 2008 haben die Chinesen neben Südostasien und Afrika auch Lateinamerika und Europa verstärkt in den Blick genommen. Laut dem Mercator Institute for China Studies (Merics) haben chinesische Investitionen in Europa im vergangenen Jahr neue Rekorde erreicht und sind im Vergleich zum Vorjahr um 77 Prozent gewachsen. Das meiste chinesische Geld floss nach Grossbritannien, Frankreich und Deutschland. Auch in der Schweiz sind chinesische (Staats-)Unternehmen fündig geworden. Xis hochkarätige Wirtschaftsdelegation wird in Davos gewiss umschwärmt werden.

Es ist eine Frage der Zeit, bis China die USA als stärkste Wirtschaftsnation überholen wird. Donald Trump könnte für Peking dabei sogar zu einem Glücksfall werden. Sollte er das amerikanische Freihandelsprojekt TPP tatsächlich aufgeben, wird Terrain für Chinas Konkurrenzprojekt RCEP frei. Dieses Freihandelsabkommen schliesst neben den zehn Asean-Ländern Australien, Indien, Japan, Südkorea und Neuseeland, nicht aber die USA ein. Neue Chancen ergäben sich auch in Lateinamerika, sollte Trump die angekündigte Mauer zu Mexiko bauen. China, das derzeit seinen eigenen Markt gegen aussen immer mehr abschottet, stünde plötzlich als Förderer des Freihandels im Pazifik da – das Bild ist schief, aber nicht unrealistisch.

Anders sieht Chinas Position in der Politik aus. Das Land ist weit davon entfernt, eine weltpolitische Ordnungsmacht zu sein. Lange war Pekings Aussenpolitik auf eine wirtschaftliche Dimension reduziert; sie war dazu da, in seinen ärmeren Nachbarländern, in Afrika und Lateinamerika den Rohstoffhunger des Landes zu stillen. In wichtigen internationalen Organisationen ist China zwar Mitglied, hat aber bisher nach dem Prinzip der Nichteinmischung gehandelt und kaum Initiative ergriffen. Vertreter Pekings machten nie ein Hehl daraus, dass sie die Werte, die den westlich geprägten Institutionen zugrunde liegen, nicht teilen.

Seit Xi Jinping vor vier Jahren an die Macht kam, hat sich China etwas mehr nach aussen orientiert: Es gründete eigene Institutionen wie die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB), war Gastgeber für mehrere wichtige Gipfeltreffen und stand der G-20 vor. Peking hat erste zaghafte Versuche in diplomatischen Missionen unternommen und den personellen Beitrag an Uno-Friedenstruppen deutlich erhöht. Auf aussenpolitische Ambitionen deuten auch der von Xi forcierte Umbau der Armee und die Aufrüstung hin. Deutlich wie nie macht China im Ost- und im Südchinesischen Meer seine Gebietsansprüche geltend und legt sich dabei auch mit den USA an. Bis anhin bietet allein das militärisch deutlich überlegene Amerika Chinas Expansionismus wirksam die Stirn. Ist die Wahl von Donald Trump, der die US-Allianzen in der Welt infrage stellt und wirtschaftlichen Protektionismus ankündigt, die Steilvorlage für Chinas Aufstieg zur neuen Ordnungsmacht? Peking hat – vorerst – andere Prioritäten; und das ist des Westens Glück.

Die andere Machtbasis

Die kommunistische Führung braucht den Grossteil ihrer Energie nach wie vor für innere Angelegenheiten; und das wird sich so bald nicht ändern. Auch wenn die Entwicklung des Landes rasant und beeindruckend ist – seit den achtziger Jahren ist es Millionen von Menschen gelungen, der Armut zu entfliehen –, Xi Jinping steht innenpolitisch vor einem riesigen Berg an Aufgaben. Ein wachsender Mittelstand möchte wohnen, reisen und gutbezahlte Arbeit finden. Wirtschaftlich hat China vor allem die tief hängenden Früchte geerntet; nun muss das System, das noch immer stark auf der staatlich gestützten Schwerindustrie und billigen Exporten fusst, dringend reformiert werden. Die Gefahr, dass China in der «middle-income trap» landet, die Einkommen also nicht mehr weiterwachsen und das Wachstum stagniert, ist latent. Der wachsende Energiebedarf steht beschränkten Ressourcen gegenüber, und das Land leidet nach wie vor unter den heftigsten Umweltverschmutzungen der Welt. Agiert hat Chinas Führung bisher punktuell; vor allem hat sie reagiert – auch auf die innenpolitischen Spannungen. Das gesellschaftliche Klima unter Xi Jinping ist so repressiv wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Vor diesem Hintergrund ergibt es für Peking wenig Sinn, sich aktiv in internationale Konflikte fernab der eigenen Grenzen einzumischen.

Die Macht Chinas steht auf einem anderen Fundament als jene Amerikas. Die kommunistische Führung will niemandem ihre Weltsicht aufdrücken, sondern beweist, dass sie trotz Missachtung von Menschenrechten und Meinungsfreiheit, ohne Rechtsstaat und trotz geringer Ausstrahlungskraft in der Welt vorankommt. Die Länder des Westens haben zu diesem Umstand beigetragen. Sie gaben den wirtschaftlichen Chancen des riesigen Marktes und den günstigen Produktionsmöglichkeiten mehr Gewicht als der Durchsetzung der Werte einer Weltordnung, wie wir sie seit siebzig Jahren kennen. Deren derzeitige Schwäche, die Unsicherheit im Hinblick auf den neuen amerikanischen Präsidenten und die Krise in Europa sind für China eine Chance, seine eigenen Regeln verstärkt durchzusetzen. Das spüren ausländische Unternehmen wie jüngst Uber oder Google, die versuchen, in China Fuss zu fassen: Ihnen wird Marktzugang versprochen, dann aber werden grosse Steine in den Weg gelegt. Das merken auch Chinas Nachbarn, die den expansiven Ansprüchen Pekings im Südchinesischen Meer machtlos gegenüberstehen.

Die Hoffnung, dass das Reich der Mitte offener und westlicher wird, wenn es nur besser in die bestehenden Institutionen eingebunden wird, hat sich bisher nicht erfüllt. Daran sollte man in den Hauptstädten Europas, in Davos und Bern ab und zu denken, wenn man in Xi Jinpings Angebot einer «vertieften Zusammenarbeit» einschlägt. Wenn Chinas Staatschef nun in Davos auf der Weltbühne mittanzt und den Freihandel beschwört, mag das auf den ersten Blick harmonisch wirken. Xi Jinping aber hat seinen eigenen Takt im Ohr.

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