Bei den Massenprotesten in Bukarest geht es um mehr als korrupte Eliten. Die Demonstranten wehren sich auch gegen den regionalen Trend in Richtung Autoritarismus.
«Europa, wir stehen ein für deine Werte. Mit Liebe, Rumänien», steht auf einem Plakat, das ein Demonstrant in Rumäniens Hauptstadt Bukarest hochhält. Die Botschaft zeigt, dass die Hunderttausenden ein Zeichen über die Landesgrenzen hinaus setzen wollen – für den Rechtsstaat und für ein System, das den Bürgern dient statt der Selbstbereicherung der Eliten. Am Versuch der postsozialistischen Regierungspartei PSD, die Korruptionsbekämpfung zu schwächen, hatten sich die Proteste entzündet, doch inzwischen geht es um mehr: zu zeigen, dass Rumänien zu Europa gehört, gerade jetzt, da autoritäre Tendenzen in den östlichen EU-Ländern zunehmen.
Die Rumänen fürchten, dass das umstrittene Amnestiegesetz nur der Auftakt zu einem grösseren Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit ist. Sie blicken dabei nach Polen und Ungarn, wo machthungrige Regierungen demokratische Errungenschaften zurückgerollt haben. Sie taten dies im Kulturkampf gegen progressive Bevölkerungsschichten. Die nationalistischen Revolutionäre Viktor Orban und Jaroslaw Kaczynski wie der postsozialistische Bewahrer und PSD-Chef in Rumänien, Liviu Dragnea, setzen auf die gleiche ideologische Mischung: Die paradoxen Brüder im Geiste holen die von Europa Enttäuschten mit nationalistischen Parolen und Versprechen auf soziale Wohltaten ab.
In Ungarn hat die Opposition bis heute kein Mittel gefunden gegen Viktor Orbans autoritäre Politik – er kontrolliert das Land fast nach Belieben. In Polen sind die Folgen des ersten Regierungsjahrs der Partei Recht und Gerechtigkeit erschreckend: Aus ihrer relativen Mehrheit bei der Wahl leitet die PiS das Mandat ab, das ganze Land patriotisch auf Kurs zu bringen. Der Putsch gegen das Verfassungsgericht war bereits erfolgreich, trotz massiver Kritik. Zu den nächsten Zielen gehören Bildung und Militär. Lediglich beim Abtreibungsverbot machte Kaczynski nach massiven Protesten einen Rückzieher – zumindest für den Moment.
Liviu Dragnea scheint seine Vorbilder gut studiert zu haben, wie der Rückzug des umstrittenen Amnestiegesetzes am Wochenende zeigt. Dass die Demonstranten sich damit nicht zufriedengeben, ist richtig, denn die Konzession ist rein taktisch. Der Chef der PSD illustrierte dies selbst, als er am Montag erklärte, er wolle weiterhin Ministerpräsident werden, obwohl er wegen Amtsmissbrauch verurteilt ist: Für einen Parteibaron wie Dragnea, der seine ganze politische Karriere im wirtschaftlich-politischen Klüngel der PSD verbrachte, passen Gewaltenteilung und eine integre Justiz nicht ins Weltbild; Osteuropas starke Männer kontrollieren Gerichte, und nicht umgekehrt.
Orban und Kaczynski sehen dies ähnlich, auch wenn sie einst gegen das kommunistische System kämpften. Die PSD, in der frühere Kader den Ton angeben, müssten die beiden Nationalisten verachten, wittern sie doch überall den schädlichen Einfluss des Sozialismus. Doch die drei Männer teilen das gleiche Politikverständnis; sie setzen auf Kontrolle und Loyalität statt Gewaltentrennung.
Dass in Polen und Rumänien dennoch Hunderttausende für abstrakte Werte wie Korruptionsbekämpfung und die Verfassung auf die Strasse gehen, zeigt aber auch, wie weit diese Länder in einem guten Vierteljahrhundert gekommen sind. Alleine kann die Strasse aber nicht gegen die Politik gewinnen – sie braucht eine institutionelle Verankerung. In Rumänien sind die Voraussetzungen dafür besser als anderswo, da die Korruptionsbekämpfer und Demonstranten durch den liberalen Staatspräsidenten Klaus Iohannis Rückendeckung erhalten. Das Fehlen einer solchen Kohabitation verringert die Effektivität von Protesten in Ungarn und Polen.
Wie nachhaltig die Wirkung der rumänischen Empörten ist, muss sich allerdings noch weisen: Mehrheiten, das zeigten die enttäuschenden Wahlresultate von Iohannis' Partei im Dezember, schafft die Korruptionsbekämpfung alleine noch nicht. Es braucht eine Politik, die den Menschen eine Perspektive bietet. Darüber, wie diese aussehen soll, herrscht aber nicht einmal in der heterogenen Protestbewegung Einigkeit. In Zeiten zunehmender Polarisierung und Ausdifferenzierung von Gesellschaften einen breiten Konsens zu schaffen, gleicht einer Herkulesaufgabe – nicht nur in Osteuropa.