Kommentar

Rumänien trotzt dem Trend

Bei den Massenprotesten in Bukarest geht es um mehr als korrupte Eliten. Die Demonstranten wehren sich auch gegen den regionalen Trend in Richtung Autoritarismus.

Ivo Mijnssen
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«Europa, wir stehen ein für deine Werte. Mit Liebe, Rumänien», steht auf einem Plakat, das ein Demonstrant in Rumäniens Hauptstadt Bukarest hochhält. Die Botschaft zeigt, dass die Hunderttausenden ein Zeichen über die Landesgrenzen hinaus setzen wollen – für den Rechtsstaat und für ein System, das den Bürgern dient statt der Selbstbereicherung der Eliten. Am Versuch der postsozialistischen Regierungspartei PSD, die Korruptionsbekämpfung zu schwächen, hatten sich die Proteste entzündet, doch inzwischen geht es um mehr: zu zeigen, dass Rumänien zu Europa gehört, gerade jetzt, da autoritäre Tendenzen in den östlichen EU-Ländern zunehmen.

Osteuropas Kulturkampf

Demonstration auf dem Victoriei Plaza in Bukarest am 5. Januar. (Bild: Dan Balanescu / EPA)

Demonstration auf dem Victoriei Plaza in Bukarest am 5. Januar. (Bild: Dan Balanescu / EPA)

Die Rumänen fürchten, dass das umstrittene Amnestiegesetz nur der Auftakt zu einem grösseren Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit ist. Sie blicken dabei nach Polen und Ungarn, wo machthungrige Regierungen demokratische Errungenschaften zurückgerollt haben. Sie taten dies im Kulturkampf gegen progressive Bevölkerungsschichten. Die nationalistischen Revolutionäre Viktor Orban und Jaroslaw Kaczynski wie der postsozialistische Bewahrer und PSD-Chef in Rumänien, Liviu Dragnea, setzen auf die gleiche ideologische Mischung: Die paradoxen Brüder im Geiste holen die von Europa Enttäuschten mit nationalistischen Parolen und Versprechen auf soziale Wohltaten ab.

In Ungarn hat die Opposition bis heute kein Mittel gefunden gegen Viktor Orbans autoritäre Politik – er kontrolliert das Land fast nach Belieben. In Polen sind die Folgen des ersten Regierungsjahrs der Partei Recht und Gerechtigkeit erschreckend: Aus ihrer relativen Mehrheit bei der Wahl leitet die PiS das Mandat ab, das ganze Land patriotisch auf Kurs zu bringen. Der Putsch gegen das Verfassungsgericht war bereits erfolgreich, trotz massiver Kritik. Zu den nächsten Zielen gehören Bildung und Militär. Lediglich beim Abtreibungsverbot machte Kaczynski nach massiven Protesten einen Rückzieher – zumindest für den Moment.

Widersprüchliche Verbündete im Geiste

Liviu Dragnea scheint seine Vorbilder gut studiert zu haben, wie der Rückzug des umstrittenen Amnestiegesetzes am Wochenende zeigt. Dass die Demonstranten sich damit nicht zufriedengeben, ist richtig, denn die Konzession ist rein taktisch. Der Chef der PSD illustrierte dies selbst, als er am Montag erklärte, er wolle weiterhin Ministerpräsident werden, obwohl er wegen Amtsmissbrauch verurteilt ist: Für einen Parteibaron wie Dragnea, der seine ganze politische Karriere im wirtschaftlich-politischen Klüngel der PSD verbrachte, passen Gewaltenteilung und eine integre Justiz nicht ins Weltbild; Osteuropas starke Männer kontrollieren Gerichte, und nicht umgekehrt.

Die Massenproteste gegen die Lockerung von Anti-Korruptionsgesetzen sind auch am Sonntagabend, dem sechsten Tag in Folge, in vollem Gange. Dies, obwohl die rumänische Regierung die umstrittene Regelung kurz zuvor zurückgenommen hatte. Hunderttausende Menschen bilden ein Lichtermeer vor dem Regierungsgebäude in Bukarest (5. Februar). (Bild: Andreea Alexandru / AP)
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Diese Demonstrantin zeigt auch am sechsten Tag der Proteste Durchhaltewillen (5. Februar). (Bild: Robert Ghement / EPA)
Der sozialdemokratische Ministerpräsident Sorin Grindeanu gibt dem Druck der Protestierenden am Samstag nach und kündigt die Rücknahme des Dekrets an. Ein neuer Gesetzesentwurf soll folgen (4. Februar). (Bild: Bogdan Cristel / EPA)
Die Proteste der vergangenen Tage gelten als die grössten Demonstrationen, die Rumänien seit 1989 erlebt hat (4. Februar). (Bild: Sebastian Tataru / EPA )
Die Demonstranten haben eine klare Botschaft und halten Bilder der für die eingeführte Einschränkung der Strafverfolgung bei Amtsmissbrauch verantwortlichen Politiker in Gefängnisuniform in die Luft (3. Februar). (Bild: Vadim Ghirda/ AP)
Dieser Demonstrant erinnert mit seinem Schild an die rumänische Revolution im Jahre 1989. Damals ging es um die Abschaffung der Diktatur im Lande (3. Februar). (Bild: Sebastian Tataru / EPA )
In ganz Rumänien, wie hier in Bukarest, haben am Donnerstagabend den dritten Tag in Folge Zehntausende Menschen gegen die sozialliberale Regierung demonstriert (2. Februar). (Bild: Vadim Ghirda / AP)
Der gut eine Hektare grosse Platz vor dem Regierungssitz in Bukarest war am Donnerstagabend voller Demonstranten (2. Februar). (Bild: Robert Ghement / EPA)
Stein des Anstosses ist ein Dekret, wonach Amtsmissbrauch nicht länger strafbar ist, wenn es dabei um Summen von weniger als umgerechnet etwa 50'000 Franken geht. (Bild: Robert Ghement / EPA)
Mit der Verordnung würden Dutzende von korruptionsverdächtigen Politikern geschützt, darunter der Chef der Sozialdemokraten (PSD), Liviu Dragnea. (Bild: Alex Dobre / EPA)
Sorin Grindeanu, hier bei der Vereidigung zum Ministerpräsidenten von Rumänien am 4. Januar 2017, lehnte am Donnerstag erneut eine Abschaffung der umstrittenen Verordnung ab. (Bild: Alex Dobre / EPA)
Bereits am Mittwoch waren aus Zorn über die Regierung über 250'000 Rumänen auf die Strassen gegangen. (1. Februar) (Bild: Imago)
Die Demonstranten wehten mit rumänischen Flaggen und schrien Parolen gegen die Regierung. Nie gingen in Rumänien seit dem Ende des Kommunismus mehr Leute auf die Strasse als bei den aktuellen Protesten. (Bild: Robert Ghement / EPA)
Dieser Mann versucht es auf den Strassen von Bukarest mit einem stillen Protest.(Bild: Octav Ganea / Reuters)
Ein Mann hält an einer Demonstration in Bukarest ein Schild mit einem Totenkopf und der Abkürzung der regierenden Sozialdemokratischen Partei PSD in die Höhe. (Bild: Vadim Ghirda / AP)
Am Mittwochabend hatten mehrere Dutzend Randalierer inmitten friedlicher Demonstranten plötzlich Polizisten mit Feuerwerkskörpern angegriffen. (Bild: Vadim Ghirda / AP)
Die Polizisten setzten Tränengas ein. (Bild: Robert Ghement / EPA)
Die sonst friedlichen Proteste fanden nach Polizeiangaben am Mittwochabend in landesweit 70 Ortschaften statt. Medien schätzten die Teilnehmerzahl auf 300'000, die Polizei wollte dazu keine Angaben machen (1. Februar). (Bild: Robert Ghement / EPA)

Die Massenproteste gegen die Lockerung von Anti-Korruptionsgesetzen sind auch am Sonntagabend, dem sechsten Tag in Folge, in vollem Gange. Dies, obwohl die rumänische Regierung die umstrittene Regelung kurz zuvor zurückgenommen hatte. Hunderttausende Menschen bilden ein Lichtermeer vor dem Regierungsgebäude in Bukarest (5. Februar). (Bild: Andreea Alexandru / AP)

Orban und Kaczynski sehen dies ähnlich, auch wenn sie einst gegen das kommunistische System kämpften. Die PSD, in der frühere Kader den Ton angeben, müssten die beiden Nationalisten verachten, wittern sie doch überall den schädlichen Einfluss des Sozialismus. Doch die drei Männer teilen das gleiche Politikverständnis; sie setzen auf Kontrolle und Loyalität statt Gewaltentrennung.

Ein langer Weg

Dass in Polen und Rumänien dennoch Hunderttausende für abstrakte Werte wie Korruptionsbekämpfung und die Verfassung auf die Strasse gehen, zeigt aber auch, wie weit diese Länder in einem guten Vierteljahrhundert gekommen sind. Alleine kann die Strasse aber nicht gegen die Politik gewinnen – sie braucht eine institutionelle Verankerung. In Rumänien sind die Voraussetzungen dafür besser als anderswo, da die Korruptionsbekämpfer und Demonstranten durch den liberalen Staatspräsidenten Klaus Iohannis Rückendeckung erhalten. Das Fehlen einer solchen Kohabitation verringert die Effektivität von Protesten in Ungarn und Polen.

Wie nachhaltig die Wirkung der rumänischen Empörten ist, muss sich allerdings noch weisen: Mehrheiten, das zeigten die enttäuschenden Wahlresultate von Iohannis' Partei im Dezember, schafft die Korruptionsbekämpfung alleine noch nicht. Es braucht eine Politik, die den Menschen eine Perspektive bietet. Darüber, wie diese aussehen soll, herrscht aber nicht einmal in der heterogenen Protestbewegung Einigkeit. In Zeiten zunehmender Polarisierung und Ausdifferenzierung von Gesellschaften einen breiten Konsens zu schaffen, gleicht einer Herkulesaufgabe – nicht nur in Osteuropa.