Kommentar

Die Europäer fürchten die Wahrheit

Die Krise um Griechenlands Schuldenberg ist ins öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt. Die europäischen Geldgeber setzen dabei weiterhin auf Wunschdenken und Schönfärberei.

Thomas Fuster
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Blick über Athen - Griechenlands Finanzen befinden sich weiterhin in bedrohlicher Schieflage. (Bild: Daniel Ochoa de Olza / AP)

Blick über Athen - Griechenlands Finanzen befinden sich weiterhin in bedrohlicher Schieflage. (Bild: Daniel Ochoa de Olza / AP)

Mediale Aufmerksamkeit hat enge Grenzen. Drängt sich ein Grossereignis vor, etwa ein neuer Präsident in den USA, geraten andere Themen rasch in Vergessenheit. Irritierend ruhig war es in den vergangenen Monaten beispielsweise um Griechenland. Die Ruhe bedeutete indes nicht, dass die Schuldenkrise einer Lösung näherkam. Vielmehr befinden sich Athens Finanzen noch immer in bedrohlicher Schieflage, während sich die Gläubiger über das Vorgehen alles andere als einig sind. Diese unbequeme Wahrheit hat sich in den vergangenen Tagen unverhofft in Erinnerung gerufen. Eine Krise, die angesichts der Problemlage nie wirklich abwesend war, ist ins öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt.

Grund für die gestiegene Nervosität sind die Verzögerungen bei der zweiten Überprüfung des dritten Hilfsprogramms. Dass diese Überprüfung bis zum Treffen der Euro-Finanzminister am kommenden Montag beendet werden kann, gilt als unwahrscheinlich. Ein Abschluss ist aber Voraussetzung zur Auszahlung der nächsten Kredittranche. Noch immer schätzen die Europäer die Lage weit rosiger ein als der Internationale Währungsfonds (IMF), der offenlässt, ob er sich am Programm überhaupt finanziell beteiligen wird. Auf eine solche Beteiligung dringt vor allem Deutschland, das dem IMF eher als der allzu nachsichtigen EU-Kommission zutraut, auch harte Auflagen durchzusetzen.

Die Statistiken sprechen für den IMF. Die Schulden Griechenlands, die Ende 2015 bei 179 Prozent der Wirtschaftsleistung lagen, sind auf Dauer tatsächlich nicht tragbar. Und das Hilfsprogramm der Europäer basiert auf ziemlich unrealistischen Zielen. Illusorisch ist vor allem die Vorstellung, Griechenland werde ab 2018 über Jahre hinweg einen hohen Primärüberschuss von 3,5 Prozent verbuchen. Das ist Schönfärberei. Hält man sich an die Fakten, gibt es nur zwei Optionen: Entweder befreit sich Griechenland aus dem Korsett des Euro, oder die Gläubiger gewähren einen substanziellen Schuldenschnitt. Von beidem wollen die Europäer aber nichts wissen.

Was ist zu erwarten? Der Terminkalender spricht für Athen. So stehen in den kommenden Monaten wichtige Wahlen in den Niederlanden, in Frankreich und in Deutschland an. In keinem dieser Länder hat die Regierung ein Interesse an einer Eskalation der Krise, da dies den rechtsnationalen Kräften in die Hände spielen würde. Also wird man an überaus optimistischen Szenarien festhalten, Bereitschaft für kosmetische Schuldenerleichterungen zeigen und Athen noch vor dem Sommer, wenn milliardenschwere Schuldenrückzahlungen anstehen, eine nächste Kredittranche überweisen. Man kann dies Realpolitik nennen – oder Realitätsverweigerung.