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Meinung Zukunft der Türkei

Verliert Erdogan sein Referendum, könnte das Schlimmste erst noch kommen

RIZE, TURKEY - APRIL 10: A banner showing the portrait of Turkish President Recep Tayyip Erdogan is seen at sunset blowing in the wind from a highway bridge on April 10, 2017 in Rize, Turkey. Although born in Kasimpasa, Istanbul, President Erdogan's family was originally from Rize a conservative town on the Black Sea. His family returned to Rize when Erdogan was very young staying until he was 13, before returning to Istanbul. Campaigning by both the "Evet"(Yes) and "Hayir" (No) camps has intensified across the country ahead of Turkey holding a constitutional referendum on April 16, 2017. Turks will vote on 18 proposed amendments to the Constitution of Turkey. The controversial changes seek to replace the parliamentary system and move to a presidential system, which would give President Recep Tayyip Erdogan executive authority. (Photo by Chris McGrath/Getty Images) RIZE, TURKEY - APRIL 10: A banner showing the portrait of Turkish President Recep Tayyip Erdogan is seen at sunset blowing in the wind from a highway bridge on April 10, 2017 in Rize, Turkey. Although born in Kasimpasa, Istanbul, President Erdogan's family was originally from Rize a conservative town on the Black Sea. His family returned to Rize when Erdogan was very young staying until he was 13, before returning to Istanbul. Campaigning by both the "Evet"(Yes) and "Hayir" (No) camps has intensified across the country ahead of Turkey holding a constitutional referendum on April 16, 2017. Turks will vote on 18 proposed amendments to the Constitution of Turkey. The controversial changes seek to replace the parliamentary system and move to a presidential system, which would give President Recep Tayyip Erdogan executive authority. (Photo by Chris McGrath/Getty Images)
Vom Winde verweht: ein Banner mit dem Konterfei des türkischen Präsidenten steht in der Abendsonne von Rize
Quelle: Getty Images
Scheitert Erdogans Referendum, drohen der Türkei und Europa höchst instabile und chaotische Zeiten. Der türkische Machtpolitiker wird brutal versuchen, seine Reihen zu schließen. Es ist Zeit, ihm klare Kante zu zeigen.

Die Abstimmung über die Verfassungsreform in der Türkei am Ostersonntag wird erhebliche Auswirkungen auf die Politik der kommenden Monate haben: Sollte Präsident Erdogan das Referendum gewinnen und sein Land zu einem absolutistischen Präsidialsystem umbauen können, so schafft das vordergründig Stabilität.

Die Folge: Erdogan dürfte sich bald pragmatischer zeigen und die andauernde Verletzung demokratischer Grundrechte zumindest einschränken. Eine Amnestie von politisch Gefangenen ist dann durchaus realistisch. Es dürfte zu einer Entspannung zwischen der Türkei und dem Westen kommen.

Erdogan sieht Türkei als europäisches Land

Für Türken im Ausland ist die Frist zur Stimmabgabe abgelaufen. In der Türkei selbst läuft der Wahlkampf aber noch. Erdogan machte bei einer Veranstaltung klar, dass er sein Land in Europa sieht.

Quelle: N24/ Christin Brauer

Gleichzeitig wäre aber auch die Zitterpartie der letzten Monate für die Wirtschaft erst einmal vorüber, was die Finanzmärkte beruhigen, die Türkische Lira stärken und zu mehr Investitionen führen dürfte.

Und wenn das Referendum scheitert? Dann wird der Präsident versuchen, möglichst bald Neuwahlen auszurufen – er setzt auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, mit deren Hilfe sich die ersehnte Verfassungsreform doch noch durchsetzen ließe.

Es drohen chaotische Zeiten

Dies wäre ein Szenario höchster Instabilität und Unsicherheit. Es drohen chaotische Zeiten. Der Machttechnokrat Erdogan wird dann mit aller Brutalität versuchen, die Reihen hinter sich zu schließen.

Er dürfte seine Repressionspolitik gegenüber Andersdenkenden noch ausweiten. Er wird den türkischen Neo-Osmanismus weiter schüren, den Nationalismus anheizen und auf eine weitere Polarisierung der türkischen Gesellschaft setzen.

Die Spannungen mit der EU werden dann vorübergehend zunehmen – die häufig widerspenstigen Europäer taugen perfekt, um erneut eine Bedrohung von außen durch dunkle Mächte zu konstruieren.

Auf der anderen Seite wird die parteiinterne Kritik an Erdogans Politik wachsen – vor allem seitens des AKP-Wirtschaftsflügels. Allerdings ist aus heutiger Sicht nicht zu erwarten, dass die innerparteiliche Opposition stark genug sein wird, Erdogan zu stürzen.

Erdogan beschimpft die EU

Mit großer Wahrscheinlichkeit wird er auch in den kommenden Jahren als Präsident die Politik der Türkei bestimmen. Er braucht jedoch internationale Partner. Nur wen? Die türkische Außenpolitik gleicht einem Trümmerfeld.

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Erst kürzlich hatte Erdogan die Europäer als „Kreuzritter-Allianz“, „faschistisch“ und „grausam“ diffamiert. Aber genau in ihre Arme dürfte er schon bald wieder zurückkehren. Erdogan kann ohne die EU nicht überleben. Er hat nur eine Wahl: Europa.

Wie Erdogans Pläne den Türken weh tun

Die Politik des türkischen Präsidenten Erdogan hat unmittelbare Auswirkungen auf sein Volk: Die Inflation ist so hoch wie seit neun Jahren nicht mehr - ausgerechnet kurz vor dem wichtigen Verfassungs-Referendum.

Quelle: N24

Das Verhältnis zu den USA, denen Erdogan vorwirft, in Syrien die Kurden zu bewaffnen, die schiitische Regierung im Irak zu unterstützen und den angeblichen Drahtzieher des Putschversuchs vom Juli, den Prediger Fethullah Gülen, zu decken, ist schwer zerrüttet – Washington wird heute in Ankara als Sicherheitsrisiko gesehen. Russland und China wiederum sind keine echten Alternativen.

Im Moment scheint das Pendel zwar in Richtung Russland zu schwingen. So will Ankara in Moskau zum Ärger der Nato das Flugabwehrsystem S-400 bestellen. Unter dem Einfluss Russlands hat die Türkei auch ihre Syrien-Politik radikal geändert und hofft jetzt, irgendwann bei einer Aufteilung des Landes profitieren zu können.

Nur die Hinwendung zu China macht Sinn

In Wahrheit aber haben Moskau und Ankara nur wenige Schnittmengen. Alle Versuche Erdogans, den russischen Präsidenten Putin von seiner Unterstützung für die syrischen Kurden abzubringen, sind fehlgeschlagen.

Ökonomisch würde eine Hinwendung nach China für die Türkei ohnehin mehr Sinn ergeben. Ein Schritt in diese Richtung könnte eine Mitgliedschaft in der von China und Russland dominierten Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) sein. Erdogan strebt das an. 26 Prozent der türkischen Importe stammen mittlerweile aus der SCO.

Überraschendes Wirtschaftswachstum zur rechten Zeit

Die türkische Wirtschaft hat überraschend stark zugelegt. So kurz vor dem Referendum kommt der Aufschwung für Präsident Erdogan wie gerufen. Die enorm gestiegenen Staatsausgaben könnten der Grund für den Boom sein.

Quelle: N24/ Sebastian Honekamp

Aber diese Organisation wird die wirtschaftliche Bedeutung der EU in den kommenden Jahren niemals ersetzen können: Mehr als 60 Prozent der Direktinvestitionen in die Türkei kommen aus der EU, nur sechs Prozent aus der SCO. Zudem gehen 45 Prozent der türkischen Exporte in die EU, der Anteil der Europäer an den Importen liegt bei 38 Prozent.

Auch wenn China mit dem Projekt der „Neuen Seidenstraße“ auf Expansionskurs nach Europa und Afrika ist, hat die Türkei keine Chance, in absehbarer Zukunft zum Brückenkopf Pekings nach Europa zu werden.

Die Zollunion mit der EU ist eine gute Waffe

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Darin liegt eine Chance für die Europäer. Erdogans Macht basiert wesentlich auf wirtschaftlichen Erfolgen – und diese bleiben immer mehr aus. Die Arbeitslosigkeit verharrt auf dem höchsten Stand seit sieben Jahren. Das Gespenst der Geldentwertung ist zurück – die Inflation liegt bei 11,3 Prozent, was eine enorme Gefahr für den Präsidenten darstellt.

Zahlreiche Türken beantragen Asyl in Deutschland

Dieses Jahr haben bereits mehr als 1100 Türken in Deutschland Asyl beantragt. Darunter auch zahlreiche Nato-Soldaten. Die Türkei hatte nach dem Putschversuch alle Beamten aus dem Ausland zurückbeordert.

Quelle: N24/Isabelle Bhuiyan

Zwei Drittel aller ausländischen Beteiligungen an türkischen Unternehmen stammen aus der EU – Erdogan kann die Europäer nicht länger verprellen. Ankara benötigt zudem dringend eine Ausweitung der bestehenden Zollunion mit Brüssel auf die öffentliche Auftragsvergabe, Dienstleistungen und Agrarprodukte – dies könnte laut Ifo-Institut zu einem zusätzlichen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um bis zu 1,8 Prozent führen.

Die Zollunion ist momentan das stärkste Druckmittel, das die Europäer haben. Sie muss künftig zur Daumenschraube für Erdogan werden: Wenn er mehr Zollfreiheit will, muss er dauerhaft Zugeständnisse bei demokratischen Reformen machen.

Erdogan kann den Westen nicht unter Druck setzen

Hält er sich nicht daran, sollten die Vereinbarungen suspendiert werden. Die Beitrittsverhandlungen sind dagegen als „Demokratisierungspeitsche“ obsolet geworden. Sie sind zur Farce degeneriert. Andererseits kann Erdogan den Westen kaum unter Druck setzen.

Das gilt insbesondere für den Flüchtlingspakt mit der EU. Warum? Die überwältigende Mehrheit der rund 2,7 Millionen Syrer, die heute noch in der Türkei leben, wollen dort bleiben. Erdogan kann es sich aus innenpolitischen Gründen auch nicht leisten, die muslimischen Glaubensbrüder einfach in Richtung Norden zu vertreiben.

Unterwegs in der Ägäis – Noch hält der Flüchtlingsdeal

Die Stimmung zwischen Erdogan und der Europäischen Union ist angespannt. Doch noch hält der Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Christoph Wanner und Andreas Diehr sind mit der Hilfsorganisation „Proactiva Open Arms“ in der Ägäis unterwegs.

Quelle: N24/Christoph Wanner und Andreas Diehr

Hinzu kommt: Die Türkei hat aus Eigeninteresse ihre Grenzen zum Nachbarland Syrien schon lange geschlossen – das war wahrscheinlich viel wirksamer als das umstrittene Flüchtlingsabkommen mit der EU.

Auch zur Nato gibt es keine Alternative: Ohne das Bündnis hätte Ankara den Ambitionen Russlands im Schwarzen Meer, im Nahen Osten und im Kaukasus wenig entgegenzusetzen. Es ist Zeit, Erdogan klare Kante zu zeigen.

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