Kommentar

Europa muss seine Werte durchsetzen

Die in Westeuropa lebenden Türken haben Erdogans Verfassungsänderung grossmehrheitlich zugestimmt. Das verweist auf mangelhafte Integration. Europa muss die eigenen Werte energischer durchsetzen.

Peter Rásonyi
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Jubel über den Ausgang des Referendums bei jungen Frauen in Berlin. Haben die Türken während ihres oft jahrzehntelangen Aufenthalts in Europa denn nichts von westlichen Werten wie Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit gelernt?(Bild: REUTERS/Fabrizio Bensch)

Jubel über den Ausgang des Referendums bei jungen Frauen in Berlin. Haben die Türken während ihres oft jahrzehntelangen Aufenthalts in Europa denn nichts von westlichen Werten wie Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit gelernt?(Bild: REUTERS/Fabrizio Bensch)

Die türkischen Stimmbürger haben am Sonntag ihr Land von den westlichen Idealen der Demokratie weggeführt. Die Türkei wird sich durch die beschlossene Verfassungsänderung in einen autokratischen Staat ohne funktionierende Gewaltenteilung verwandeln. Es kann Europa nicht gefallen, wenn ihm ein wichtiges Nachbarland so selbstbewusst den Rücken kehrt. Das nagt an der Identität des alten Kontinents als Wiege von Zivilisation und Demokratie. Ihm geht auch ein wichtiger Verbündeter in einer politisch, sozial und militärisch höchst instabilen Region verloren. Wie soll Europa auf diese unerhörte Provokation reagieren?

Irritiert wurde nach der Abstimmung in vielen europäischen Staaten mit einem grossen türkischstämmigen Bevölkerungsanteil zur Kenntnis genommen, dass in der Türkei selbst nur eine ganz knappe Mehrheit von 51 Prozent für die Verfassungsänderung gestimmt hat. Ausgerechnet in hochentwickelten Demokratien wie Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien oder Österreich haben dagegen zwei Drittel bis drei Viertel der dort abstimmenden Türken der Legalisierung von Präsident Erdogans autoritärer Machtausweitung zugestimmt. Haben die Türken während ihres oft jahrzehntelangen Aufenthalts in Europa denn nichts von westlichen Werten wie Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit gelernt? Wie können sie so undankbar sein, in Europa die freiheitlichen Bürgerrechte zu geniessen, ihren Brüdern und Schwestern in der Türkei aber eben diese Privilegien zu verwehren?

Deutschland und andere europäische Staaten haben die Risiken anhaltender Parallelgesellschaften zu lange verdrängt.

In Deutschland mit seinen drei Millionen türkischstämmigen Einwohnern hat Erdogans Verfassungsänderung 63 Prozent Zustimmung erhalten. Das hat viel Unmut ausgelöst. Der Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, forderte von den in Deutschland lebenden Türken ein klares Bekenntnis zum Grundgesetz. Das AfD-Vorstandsmitglied Alice Weidel wünschte sich «Erdogans fünfte Kolonne» schlichtweg zurück in die Türkei. In CDU und CSU wurde die Kritik an der doppelten Staatsbürgerschaft wieder laut. Linke, Grüne und FDP forderten ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen.

Allen Vorschlägen ist gemeinsam, dass sie viel zu spät kommen. An der Abkehr der Türkei von den europäischen Grundwerten vermögen sie nichts mehr zu ändern. Sie verweisen vielmehr auf Versäumnisse in der Vergangenheit. Das Abstimmungsverhalten der türkischen Diaspora in Westeuropa belegt, dass die Integration dieser Bevölkerungsgruppe sehr mangelhaft verlaufen ist. Die Indikatoren dafür sind zahlreich und bekannt. Sei es in Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Einkommens- oder Vermögensstatistiken, überall öffnet sich ein Spalt zwischen Einheimischen und zugewanderten Türken, oft über drei Generationen hinweg. Dass es unter diesen Bedingungen auch mit der Akzeptanz demokratischer Grundwerte hapert, ist nicht verwunderlich.

Aussenpolitisch ist dagegen Gelassenheit angezeigt. Es wäre kein Vorteil für Europa, Ankara die Tür zu weisen.

Deutschland und andere europäische Staaten haben die Risiken anhaltender Parallelgesellschaften zu lange verdrängt. Bereitwillig und bequem wurde zugelassen, dass der türkische Staat Keile zwischen «seine» Staatsbürger und deren Klassenkameraden, Arbeitskollegen, Nachbarn in Europa treibt, indem er sie durch die von Ankara finanzierten Moscheen und weitere staatliche Organisationen belehrt und manipuliert. Europa muss die politische Einflussnahme ausländischer Staaten auf die eigene Bevölkerung unterbinden, auch wenn das mit Prinzipien von Toleranz und Offenheit kollidiert. Diese Werte werden missbraucht, wenn die Integration ansässiger Bevölkerungsgruppen gezielt hintertrieben wird und die daraus folgenden Kosten den europäischen Gesellschaften aufgebürdet werden. Die Fehler der Vergangenheit lassen sich damit nicht einfach zum Verschwinden bringen, doch eine Umkehr ist notwendig.

Aussenpolitisch ist dagegen Gelassenheit angezeigt. Natürlich hat die Türkei ihre EU-Beitrittsperspektive selber ad absurdum geführt. Das Versprechen der EU-Mitgliedschaft ist unglaubwürdig geworden; es hat daher keinen disziplinierenden Einfluss mehr. Doch es wäre kein Vorteil für Europa, daraus die Konsequenzen zu ziehen und Ankara die Tür zu weisen. Besser ist es, die eigenen Interessen klar zu definieren und mit Erdogans Türkei einen Modus vivendi zu finden. An einer praktikablen Zusammenarbeit haben beide Seiten weiterhin ein grosses Interesse.