Kommentar

Merkel nutzt Trump als EU-Katalysator

Dass sich die deutsche Kanzlerin von den USA distanziert, liegt nicht nur am Wahlkampf. Die Herausforderung Trump bietet der europäischen Politikerelite eine Chance, die EU-Integration zu vertiefen.

Peter Rásonyi
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Würde Merkel öffentlich für Verständnis für Trump werben, würde sie gewiss keine Wähler gewinnen. (Bild: Jonathan Ernst / Reuters)

Würde Merkel öffentlich für Verständnis für Trump werben, würde sie gewiss keine Wähler gewinnen. (Bild: Jonathan Ernst / Reuters)

Selten hat eine Bierzelt-Rede von Bundeskanzlerin Merkel so hohe Wellen geschlagen – bis hinüber an die amerikanische Atlantikküste. «Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei, und deshalb kann ich nur sagen, wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen.» Der am Sonntag nach den enttäuschenden Auftritten des amerikanischen Präsidenten Trump in Brüssel und Taormina hingeworfene Satz hat rund um den Globus für Aufregung gesorgt. Endet damit eine Ära in den transatlantischen Beziehungen, wie ein Kommentator in der «New York Times» meinte? Wendet sich Europa indigniert von seiner traditionellen Schutzmacht Amerika ab?

Nach zwölf Regierungsjahren kennt man die Bundeskanzlerin zu gut, um zu glauben, sie habe sich nach zweifellos frustrierenden gemeinsamen Tagen mit Trump zu einem plötzlichen Strategiewechsel der deutschen Aussenpolitik hinreissen lassen. Nein, die Worte waren mit Bedacht gewählt – und sie stehen durchaus ihm Rahmen von Merkels bewährten politischen Grundsätzen.

Erstens weist bereits der Ort der Rede – das bayrische Bierzelt – auf ihren primären Zweck hin. Mit einem Seitenhieb gegen Trump stellt sich Merkel hinter die Mehrheit der deutschen Wähler, die sich vom rüpelhaften Auftreten des Amerikaners und dessen engstirniger Auslegung des Eigeninteresses abgestossen fühlen. Würde Merkel öffentlich für Verständnis für Trump werben, würde sie gewiss keine Wähler gewinnen – und diese braucht sie an der Bundestagswahl im September. Zudem passt die Distanzierung von Trump genau in Merkels schon in den letzten zwei Bundestagswahlen erfolgreiche Strategie. Durch die Übernahme populärer Positionen der SPD nimmt sie dem Hauptkonkurrenten den Wind aus den Segeln und gewinnt Mitte-Wähler für sich. Die SPD versucht mit ihrem Kanzlerkandidaten Schulz ganz klar mit Anti-Trump-Rhetorik zu punkten.

Abgesehen vom Wahlkampf hat Merkels Satz aber noch einen zweiten, ernsteren Hintergrund. Es gehört zum Standardrepertoire europäischer Politik, Krisen zur Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses zu nutzen. Dieser ist mit der Finanzkrise und der Flüchtlingskrise ins Stocken geraten. Mit der Wahl des unbeliebten, isolationistischen, nie mit EU-feindlichen Sprüchen geizenden Provokateurs Trump zum amerikanischen Präsidenten sieht Europas Politikerelite nun eine neue Chance gekommen. Sie stellt Trump als Herausforderung dar, auf welche die Europäische Union entschlossen reagieren muss. Natürlich hat dies nach dem gewohnten Muster auszufallen – indem die Mitglieder ihre nationalen Differenzen überbrücken und näher zusammenrücken.

Der ehemalige EU-Parlaments-Präsident Schulz ist ohnehin auf forschem Integrationskurs. Mit dem neuen französischen Präsidenten Macron bietet sich Berlin hierzu ein mächtiger Partner an. Merkel hatte sich bereits zur Inauguration Trumps im Februar ähnlich geäussert wie am Sonntag. Die beiden grossen Parteien bieten einmal mehr keine echten Alternativen. Ob sich die Wähler vom gekünstelten Ausspielen von transatlantischen Beziehungen gegen europäische Integration überzeugen lassen, ist aber keineswegs gewiss.