Mit Bekenntnissen zur offenen Gesellschaft sind auf der Insel keine Wahlen mehr zu gewinnen. Nach den jüngsten Terroranschlägen schon gar nicht.
Enough is enough.“ Wer konnte nach diesem weiteren Terroranschlag in London die britische Premierministerin Theresa May nicht verstehen? Es reicht tatsächlich. Islamistische Fundamentalisten richten mit ihrer Blutspur durch Europa etwas an, das unsere Gesellschaft verändert. Sie bringen Leid über so viele Menschen und verunsichern den Rest. Und sie verändern das Denken. Ihre exportierte Gewalt zerstört jenen, die noch immer für eine offene, tolerante Gesellschaft eintreten, die argumentative Grundlage. So mag es auch nicht verwundern, dass sich Großbritannien im aktuellen Wahlkampf von seinem liberalen Leitbild verabschiedet. Mit Ankündigungen zu mehr Sicherheit, schärferen Kontrollen, eingeschränkter Zuwanderung sind derzeit Wahlen zu gewinnen – nicht mehr mit einem Bekenntnis zu mehr internationalem Wettbewerb am Arbeitsmarkt, mit freiem Handel, aber auch nicht mit einem Eintreten für kulturelle Vielfalt.
Großbritannien mag seine offene Haltung seit Margaret Thatcher vor allem als wirtschaftsliberal definiert haben. Aber gleichzeitig passte die ökonomische Deregulierung auch zu einer von Zuwanderern aus ehemaligen Kolonialstaaten geprägten Gesellschaft. Dem kompetitiven Selbstverständnis und dem durchaus starken Selbstbewusstsein schien lange nichts anhaben zu können. Vielleicht auch deshalb schoss die Führung in London zeitweise über das Ziel. Mehrmals wurden in den vergangenen Jahrzehnten Versuche der EU-Institutionen boykottiert, die lediglich darauf abzielten, Verwerfungen wie etwa im Bankenwesen durch strengere Regeln einzudämmen. Auch die Möglichkeit, den freien, europäischen Arbeitsmarkt während einer Übergangsphase nach der Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Länder in die EU zu beschränken, wurde von der britischen Regierung verworfen.
Das Bekenntnis zu einer offenen Wirtschaft und zu einer offenen Gesellschaft wurde mit einem Freiraum verwechselt, der nicht mehr gestaltet werden muss. So ähnlich wurde auch die Politik verstanden. Auch sie erhielt selbst in den etablierten Parteien Freiräume, die nichts mehr mit Verantwortung, sondern eher mit dem freien Spiel der Kräfte zu tun hatten. Eines der Ergebnisse dieser Entwicklung war der von Tory-Hinterbänklern provozierte Brexit.
Und jetzt die Trendumkehr: Großbritanniens Führung will in Europa ihren Weg wieder allein gehen. Weil die Bevölkerung nun Zuwanderung fürchtet, wird die Teilnahme am gemeinsamen Binnenmarkt gleich zur Gänze in Frage gestellt. London fährt in alle Richtungen Zäune hoch. Und was da beim Abbruch des liberalen Gesellschaftsbilds geschieht, wird früher oder später auch die Wirtschaft treffen. Ohne freien Zugang zum EU-Binnenmarkt werden im Gegenzug Wünsche nach neuem Protektionismus rasch die Oberhand gewinnen.
Das alles zu kritisieren, ist leicht. Es zu verstehen, ist schon schwerer. Den Weg heraus vorzuzeichnen aber ist am schwierigsten. Die verfahrene Situation, in der sich Theresa May befindet, ist nicht rasch zu ändern. Da ihr ein wirklich kompetitiver Herausforderer bei Labour fehlt und die Liberalen zu schwach sind, hat die Tory-Politikerin gute Chancen, diese Wahl zu gewinnen. Jetzt, angesichts der Unsicherheit, die Terror und Brexit mit sich bringen, auf Freiheiten zu setzen, wäre für sie taktisch unklug. Wichtig aber ist, dass sie den emotionalen Anker dafür nicht zerstört. Die Briten definierten sich bisher lieber als Mittelpunkt der Welt denn als isolierte Inselbewohner. Ihr Gestaltungswille hat stets die Fesseln nationaler Grenzen durchbrochen. Sie künftig wirtschaftlich wie sozial in einem abgesicherten nationalen Gehege einzusperren, wäre deshalb fatal.
Sollte May diese Wahl gewinnen, wäre sie gut beraten, dem Terror nicht nur eindimensional mit mehr Polizei und mehr Kontrollen zu kontern, sondern ebenso wie die Jugend in Manchester mit einem Bestemm zur Offenheit. Dort sagte eine Teilnehmerin des Benefizkonzerts zum Gedenken an die Opfer des Terrors: „Es ist gut, dass wir mit unserem Leben jetzt weitermachen, auch wenn die Narben bleiben.“
E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2017)