Kommentar

Das süsse Gift der Anarchie

Die Gewaltausbrüche in Hamburg sind durch nichts zu rechtfertigen. Trotzdem dürfen die kriminellen Randalierer damit rechnen, von der Öffentlichkeit und der Justiz milde beurteilt zu werden. Kein Wunder, wiederholt sich dieses traurige Spiel immer wieder.

Peter Rásonyi
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Bei den Hamburger Chaoten gibt es keinerlei nachvollziehbare Hinweise auf politische Motive: die Krawallnacht im Schanzenviertel. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)

Bei den Hamburger Chaoten gibt es keinerlei nachvollziehbare Hinweise auf politische Motive: die Krawallnacht im Schanzenviertel. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)

Das letzte Mal, als Europa ähnliche Verwüstungen in einer seiner Weltstädte sehen musste wie nun in Hamburg, war im Sommer 2011 in London. Tausende Randalierer waren damals völlig ausser Rand und Brand geraten. Mehrere Nächte lang zogen Horden Jugendlicher und junger Erwachsener durch die Strassen Londons, lieferten sich Schlachten mit der Polizei, schlugen Scheiben ein, plünderten Geschäfte, brannten Hunderte Autos und Dutzende Häuser nieder. Drei Tage und Nächte lang liess die völlig überrumpelte Polizei ein Gefühl der Anarchie auf Londons Strassen entstehen, das erst durch die Entsendung von 16000 Polizisten aus dem ganzen Land vertrieben werden konnte.

Der Gewaltausbruch damals in London war rechtlich und moralisch inakzeptabel, aber er hatte noch halbwegs nachvollziehbare politische Hintergründe. Der Auslöser war die Erschiessung eines schwarzen Kleinkriminellen durch die oft der Diskriminierung beschuldigte Londoner Polizei. Die meisten Randalierer entstammten benachteiligten sozialen Schichten. Trotzdem folgte die britische Gesellschaft und Öffentlichkeit eindeutig der Darstellung der Regierung und der Justiz, bei den Unruhen habe es sich um nichts anders als kriminelle Gewalt gehandelt. Entsprechend konsequent und hart wurden die Randalierer und Plünderer bestraft. Viele wurden durch die in London omnipräsente Videoüberwachung identifiziert. Die Gerichte führten noch während den Unruhen nächtliche Schnellprozesse durch und wendete erheblich höhere Strafmasse als üblich an. Keine drei Monate nach Ende der Unruhen zählte ein Parlamentsbericht 4000 Festnahmen, 2000 Gerichtsprozesse, 864 im Gefängnis einsitzende Straftäter.

Radikale Gegner des G-20-Gipfels haben in Hamburg grosse Verwüstungen angerichtet. Am Sonntag (9.7.) gehen die Krawalle weiter, obschon der G-20-Gipfel bereits zu Ende ist. Erneut werden Barrikaden angezündet. (Bild vom 7.7.: Pawel Kopczynski / Reuters)
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Die Polizei stand während der gesamten Dauer des G-20 unter höchstem Druck. Laut aktuellem Stand am Montag (10.7.) wurden 186 Personen festgenommen, 225 in Gewahrsam genommen und 37 Haftbefehle erteilt. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Ein Krawallmacher freut sich am Sonntag (9.7.) mit «Victory»-Zeichen über den Einsatz der Wasserwerfer. Das Ziel, eine grosse mediale Aufmerksamkeit zu erzielen, haben die Aktivisten erreicht. (Bild: Fabrizio Bensch / Reuters)
Auch in der Nacht auf Sonntag (9.7.) kam es zu zahlreichen Ausschreitungen, während welcher auch Spezialeinheiten der Polizei zum Einsatz kamen. (Bild: Alexander Becher / EPA)
Während der Krawalle in Hamburg entstanden grosse Sachschäden (9.7.). (Bild: Daniel Bockwoldt / Keystone)
Demonstranten werden von Wasserwerfern der Polizei in Schach gehalten (9.7.). (Bild: Massimo Percossi / EPA)
Im Hamburger Schanzenviertel kam es bereits in der Nacht auf Samstag (8.7.) zu heftigen Krawallen. (Bild: Clemens Bilan / EPA)
Fundamentale Kapitalismuskritik als Triebfeder für stumpfsinnige Gewalt. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Die Krawallmacher haben sich vorgenommen, den G-20-Gipfel zu stören und in die gesperrten Zonen vorzudringen. (Bild: Armando Babini / EPA)
Bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen sind nach Angaben des Hamburger Polizeisprechers Timo Zill 100 Personen in Gewahrsam genommen worden. (Bild: Filip Singer / EPA)
Die Polizei setzt unter anderem Wasserwerfer ein, um Strassenblockaden aufzuheben. (Bild: Filip Singer / EPA)
Über der Hamburger Innenstadt kreist ein Helikopter mit Suchscheinwerfern. (Bild: Clemens Bilan / EPA)
Die Verwüstungen im Schanzenviertel von Hamburg sind massiv; das Viertel gleicht zeitweise einem Katastrophengebiet. (Bild. Matthias Schrader / AP)
Für manche Passanten ist der Krawall auch ein Spektakel, für die Anwohner und Gewerbetreibenden aber ist es die «Hölle», so wie es das Motto der Demonstranten vorsieht: «Welcome to Hell». (Bild: Michael Probst / AP)
Barrikaden werden in Brand gesetzt, die Nacht verspricht unruhig zu werden. (Bild: Michael Probst / AP)
Barrikaden brennen, und bei den Krawallmachern brennen auch die Sicherungen durch. Die Gewaltbereitschaft wird von der Polizei als extrem hoch eingstuft. (Bild: Pawel Kopczynski / Reuters)
Polizisten in Spezialausrüstung durchkämmen das Schanzenviertel. Laut der Hamburger Polizei sind bisher 213 Beamte verletzt worden (Stand: Samstag, 8.7.). (Bild: Axel Heimken / AP)
Mit Suchscheinwerfern fahnden die Sicherheitskräfte nach Personengruppen, die weitere Krawalle anrichten könnten. (Bild: Bodo Marks / AP)
Polizisten führen Demonstranten ab. Inzwischen seien auch einige Haftbefehle erlassen worden, so die Hamburger Polizei. (Bild: Bodo Marks / AP)
Radikale G-20-Gegner empfinden den Polizeieinsatz als Provokation und reagieren mit noch mehr Gewalt. (Bild: Fabrizio Bensch / Reuteres)
Die Polizei ist mit einem massiven Aufgebot ins Schanzenviertel vorgerückt. Mit gepanzerten Fahrzeugen schiebt sie Barrikaden weg. (Bild: Pawel Kopczynski / Reuters)
Hubschrauber mit Suchscheinwerfer kreisen über Hamburg; die Szenerie wirkt gespenstisch. (Bild: Pawel Kopczynski / Reuters)
Wie schon in den Tagen zuvor kommt es zu Verletzten; (Bild: Pawel Kopczynski / Reuters)
Die Hamburger Polizei hat ihre Vorgehensweise einer harten Linie verteidigt. Ein Polizeisprecher sagte am Samstagmorgen der Deutschen Presse-Agentur: «Das hat mit der Wahrnehmung von Grundrechten nichts mehr zu tun.» (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Die besetzte Kreuzung Schulterblatt/Schanzenstrasse ist von der Polizei geräumt worden. Viele Randalierer verschwinden in die Seitenstrassen; für Samstag ist mit weiteren Ausschreitungen zu rechen. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Nach den Krawallen ist am Samstagmorgen Aufräumen in Hamburg angesagt. (Bild: Clemens Bilan / EPA)
Ein völlig zerstörtes Ladengeschäft im Schanzenviertel. Manche Geschäfte sind regelrecht geplündert worden. (Bild: Clemens Bilan / EPA)
Gefundenes Fressen für Kapitalismusgegner sind immer wieder Bankinstitute, so klein und lokal sie auch sein mögen. (Bild: Clemens Bilan / EPA)
Das Schanzenviertel gleicht am Morgen danach einem Krisengebiet. (Bild: Clemens Bilan / EPA)
Die Wut der G-20-Gegner hat sich an allem entladen, was ihnen in die Hände kam; selbst dieser Quartierbuchladen ist nicht verschont worden. (Bild: Clemens Bilan / EPA)
Die Krawallmacher haben Pflästerungen aufgerissen, um Steine werfen zu können. (Bild: Clemens Bilan / EPA)
Die Hamburger Stadtreinigung twittert, sie sei in der Schanze und St. Pauli mit 60 Mitarbeitern im Einsatz. (Bild: Clemens Bilan / EPA)
Um die Schäden zu beseitigen, müssen auch Baumaschinen eingesetzt werden. (Bild: Clemens Bilan / EPA)
Auch eine Hundertschaft der Polizei räumt am Samstag (8.7.) umgekippte Strassenschilder und Bierbänke in der verwüsteten Strasse Schulterblatt weg. (Bild: Fabian Bimmer / Reuters)
Das Schanzenviertel ist regelrecht umgepflügt worden. (Bild: Lukas Barth / Keystone)
Die Polizei Hamburgs gibt via Twitter bekannt, dass sie auch im Verlauf des Samstags (8.7.) mit neuen Ausschreitungen und erneuten Sperrungen rechnet. (Bild: Fabian Bimmer / Reuters) Zum Artikel

Radikale Gegner des G-20-Gipfels haben in Hamburg grosse Verwüstungen angerichtet. Am Sonntag (9.7.) gehen die Krawalle weiter, obschon der G-20-Gipfel bereits zu Ende ist. Erneut werden Barrikaden angezündet. (Bild vom 7.7.: Pawel Kopczynski / Reuters)

Bei den in faschistoider schwarzer Kleidung und Vermummung auftretenden Hamburger Chaoten gibt es keinerlei nachvollziehbare Hinweise auf politische Motive oder Beweggründe. Die Gewalt selbst scheint das Programm zu sein, das vorübergehende Aushebeln der gesellschaftlichen Ordnung und des Rechtsstaats durch das massierte Auftreten gleichgesinnter, enthemmter Gewalttäter. Die sogenannten Autonomen schaffen sich einen Moment der Anarchie, der sie in einen Rausch von Allmacht und Überheblichkeit versetzt.

Für solch rücksichtsloses Treiben gibt es keinerlei Rechtfertigung. Dennoch dürfen diese Gewalttäter in Deutschland regelmässig von einem hohen Mass an Verständnis und Nachsicht ausgehen. Die Herausforderung des staatlichen Gewaltmonopols geniesst in dem Land der sonst so perfekten Ordnung, Disziplin und Bürokratie erstaunliche Sympathie. Schon die gängigen Bezeichnungen als Autonome oder Schwarzer Block lassen gewisse Assoziationen mit romantischen Helden aufkommen. Doch was sich an diesem Wochenende in Hamburg ereignete, war kein Schauspiel von Pippi Langstrumpf oder Robin Hood. Hier ging es um rohe, inakzeptable Gewalt, die Staat und Gesellschaft in Deutschland grundlos herausforderte.

Diese Straftäter gehören entschlossen verfolgt und bestraft. Doch dass das geschieht, ist anders als in Grossbritannien ziemlich unwahrscheinlich. «Ganz Hamburg hasst die Polizei» skandierten «Demonstranten» während ihrer Raubzüge durch die Stadt. Dass sie überhaupt auf die Idee kommen konnten, die Bevölkerung stehe hinter ihnen, war nicht völlig aus der Luft gegriffen. Wenn Grossmütter den Demonstranten viel Glück wünschen, wenn eine führende Tageszeitung noch am Freitag, nach der ersten Krawallnacht, nicht die Kriminellen, sondern die Polizei rügt, weil sie die Gewaltausbrüche angeblich provoziert habe, dann wird hier gefährlich mit Sympathien für Anarchisten gespielt. Doch was Anarchie in Wahrheit bedeutet, davon gibt Hamburg am Tag danach eine Ahnung: nicht Demokratie, sondern Rechtlosigkeit, Gewalt, Zerstörung.

Vor zehn Jahren hatten im Vorfeld des G-8-Gipfels von Heiligendamm 2000 schwarz vermummte Chaoten die Innenstadt von Rostock verwüstet und Hunderte Verletzte hinterlassen. Als ein halbes Jahr später die Staatsanwaltschaft in Rostock Bilanz zog, hatten knapp 1500 Ermittlungsverfahren bloss zu 157 Anklagen und zu drei Verurteilungen zu Freiheitsstrafen geführt. Alle wurden zur Bewährung ausgesetzt. Trotz des milden Vorgehens protestierten im gleichen Jahr 500 Demonstranten in Rostock gegen «Überwachungsstaat und Justizwillkür». Man muss sich nicht wundern, wenn sich diese sinnlosen Gewaltausbrüche immer und immer wiederholen.