Kommentar

Kapitän Juncker im alten Fahrwasser

Der EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker versucht den Brexit abzuschütteln und plädiert wieder für mehr Europa und für die Einheit aller Mitgliedstaaten.

Niklaus Nuspliger, Brüssel
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EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker bei seiner Rede zur Lage der Union. (Bild: Mathieu Cugnot / EPA)

EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker bei seiner Rede zur Lage der Union. (Bild: Mathieu Cugnot / EPA)

Als Jean-Claude Juncker vor genau einem Jahr seine Rede zur Lage der Europäischen Union hielt, befand sich das europäische Schiff mitten im politischen Sturm: Das Brexit-Votum hatte die Union erschüttert und Ängste vor einem akuten Zerfall ausgelöst, und selbst Juncker musste einräumen, dass sich die EU in einer existenziellen Krise befinde. Ganz anders waren die Töne, die Juncker am Mittwoch in Strassburg in seiner dritten Rede zur Lage der EU anschlug: «Europa hat wieder Wind in den Segeln», sagte der Luxemburger – womit er deutlich machte, dass sich die EU im Jahr 2017 nicht mehr nur um die Bewältigung akuter Krisen kümmert, sondern um die Gestaltung der Zukunft.

Unbegründet ist Junckers Zuversicht nicht. Die wirtschaftliche Erholung geht voran, und die Migration hat jüngst auch auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien abgenommen. EU-Gegner wie der Niederländer Geert Wilders oder die Französin Marine Le Pen blieben in nationalen Wahlen hinter ihren Erwartungen zurück, und der Brexit hat die Austrittsgelüste anderer Staaten reduziert statt befeuert. Demonstrativ wartete Juncker bis fast zum Ende seiner Rede, bis er das Wort «Brexit» überhaupt zum ersten Mal in den Mund nahm.

Doch trotz besserer Grosswetterlage erstaunt das Tempo, mit dem Juncker das Steuer herumzureissen und die Phase kritischer Selbstreflexion hinter sich zu lassen versucht. Im März hatte die Kommission in fünf Zukunftsszenarien noch Varianten wie einen Rückbau der EU auf den Binnenmarkt oder ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten zur Diskussion gestellt. Nun heisst Junckers Devise wieder «mehr Europa» und «Einheit aller Mitgliedstaaten». In seinem ambitionierten Programm plädierte Juncker nicht nur für einen Euro-Finanzminister, sondern auch für die Verschmelzung der Präsidenten des EU-Rates und der EU-Kommission zu einem einzigen EU-Chef. Er forderte die rasche Aufnahme Rumäniens und Bulgariens in den Schengen-Raum und pochte darauf, dass – wie in den EU-Verträgen vorgesehen – grundsätzlich alle EU-Mitglieder die Einheitswährung übernehmen müssen.

Der Wille, die absolute Einheit der 27 Mitgliedstaaten zu wahren, zwingt Juncker zu einem Balanceakt. Er plädiert zwar für mehr Freihandel, befriedigt aber auch protektionistische Kräfte mit Regulierungen der Arbeitnehmermobilität und Vorschlägen zum Schutz vor ausländischen Direktinvestitionen. Ungarn und Polen mahnt er unmissverständlich zur Rechtsstaatlichkeit. Er zeigt aber auch viel Verständnis für jene Osteuropäer, die sich noch immer als EU-Bürger zweiter Klasse fühlen und über qualitativ schlechtere Markenprodukte in osteuropäischen Supermärkten klagen.

Mit solchen Manövern lassen sich die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen, politischen Ziele und nicht zuletzt Wertehaltungen in den 27 Mitgliedstaaten nur notdürftig kaschieren. Widerstand gegen Junckers Pläne ist programmiert. Anders als vor Jahresfrist ist das europäische Schiff nicht mehr akut vom Kentern bedroht. Es wird aber auch nur schwerlich vorankommen, solange 27 Steuermänner unterschiedliche Richtungen anpeilen.