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Meinung Referendum in Katalonien

Spaniens Staatskrise ist ein Armutszeugnis für die EU

„Die Unruhe ist da - Konfrontation geht weiter“

Überschattet von Polizeigewalt gegen Bürger hält Katalonien sein Unabhängigkeitsreferendum ab. Unser Reporter Jens Reupert berichtet aus Barcelona, wie es in den kommenden Tagen weiter gehen soll.

Quelle: N24

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Einer wohlhabenden Region mitten im freiheitlichen Europa droht ein Bürgerkriegsszenario, die katalanische Frage wächst sich zu einer europäischen Krise aus. Doch die EU lässt Spaniens Regierungschef Rajoy einfach gewähren.

Bekommt Europa bald einen neuen Mitgliedstaat namens Katalonien? Wer die Bilder und die Ergebnisse des sonntäglichen Referendums rund um Barcelona anschaut, dem zeigt sich auf den ersten Blick ein stolzes, friedlich für seine Freiheitsrechte kämpfendes Volk. Die prügelnden Polizisten, die sogar auf ältere Wählerinnen einschlugen, lassen nicht nur bei den Katalanen die Verbitterung hochkochen.

Wie kann ein demokratischer Staat, fußend auf den Freiheitsrechten der EU, solche Exzesse begehen? Doch das ist nur die eine Seite dieses Dramas, das sich langsam, aber sicher zu einer ähnlichen europäischen Katastrophe auszuwachsen beginnt wie der Brexit.

Auf der anderen Seite stehen verantwortungslose, besessene Politiker der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, die diese vermeintliche Volksabstimmung bewusst gegen alle rechtsstaatlichen und politischen Einwände durchziehen und den Konflikt damit auf die Spitze treiben. Gegen die Ausrufung des neuen Staates Katalonien, wie das Regionspräsident Carles Puigdemont jetzt vorhat, war die eilige Abspaltung der Krim von der Ukraine regelrecht rechtsstaatlich.

Der Chef der katalanischen Regionalregierung, Carles Puigdemont (M), am Tag danach
Der Chef der katalanischen Regionalregierung, Carles Puigdemont (M), am Tag danach
Quelle: dpa/AP

Ohne eine tragfähige Mehrheit im katalanischen Parlament, ohne eine reibungslose Volksbefragung und mit einem unausgegorenen Projekt des neuen Staates, fußend auf einer völlig brüchigen Koalition bürgerlicher Rechter und extremer Linker, ist Puigdemont dennoch der momentane Gewinner – einzig wegen der Gewalt und Willkür entsandter spanischer Polizisten, die nicht nur die Älteren im Wahlvolk an Francos Diktatur erinnern.

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Doch sei auch die umgekehrte Frage gestattet: Wie will Katalonien denn, von der restlichen Halbinsel isoliert, existieren? Soll der FC Barcelona als stolzes Aushängeschild nationaler Identität dann gegen sich selbst Fußball spielen, während Real Madrid in einer anderen Liga spielt?

Weil die sturen Independentisten um Puigdemont im spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy einen ebenso starrköpfigen Widersacher mit der Sensibilität eines Bulldozers haben, droht die katalanische Frage sich jetzt zu einer nicht nur spanischen, sondern auch europäischen Krise auszuwachsen.

Rajoys taktische Spielchen

Paradoxerweise agiert Rajoy als Chef des konservativen Partido Popular (PP) keineswegs aus einer Position der Stärke; ihm fehlt eine Mehrheit im Nationalparlament, er wird dort nur von den ihrerseits zerstrittenen Sozialisten geduldet. Fatalerweise hat seine Partei in Katalonien selbst kaum eine Wählerbasis, sodass Rajoy anscheinend findet, durch Härte und Arroganz an den Urnen in Restspanien nur gewinnen zu können. Dass er bei solchen taktischen Spielchen die Staatsraison komplett aus den Augen verliert, scheint Rajoy nicht zu stören.

Sogar die linksliberale Tageszeitung „El País“, die von Madrid aus jedwede Referendumspläne als verfassungswidrig und illegal attackierte, fragt sich nach dem Bilderdesaster vom Sonntag, welche politische und gesellschaftliche Perspektive Rajoy – er kommt aus dem stockkonservativen Galicien am anderen Ende der Halbinsel – dem mehrsprachigen und bunten Spanien denn überhaupt bieten kann. Wie sollen die Katalanen die polizeilichen Übergriffe vom Sonntag je wieder vergessen und sich mit dem spanischen Staat versöhnen?

Jeder konnte es wissen, und spätestens am Sonntag konnten es auch alle sehen: Diese leidenschaftliche Abspaltungsbewegung fußt auf langen familiären Traditionen und einem gewaltigen Opferkomplex gegenüber Madrid, was sich bei vielen Wählern mit Tränen, Gesängen und Tänzen zu einer vaterländischen Manifestation hochsteigerte.

Auf Konfrontationskurs: Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy
Auf Konfrontationskurs: Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy
Quelle: dpa/Pool Moncloa
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Solche losbrechenden Emotionen, die sich auf mehrere Hundert Jahre zurückliegende Dynastien, auf den spanischen Bürgerkrieg oder auf die immer noch bestehende Arroganz vieler Kastilier gegenüber der katalanischen Sprache berufen, kann man nicht wie ein Verkehrsdelikt abtun. Kataloniens Identitätsmisere ist nicht mit der Polizei, sondern nur mit Gesten und Gesprächen in den Griff zu bekommen.

Dass die gemäßigteren Kräfte des Landes – die Sozialisten, aber auch die ausgerechnet in Barcelona gegründete Liberalpartei Ciudadanos – sich zwischen den Extremen winden und das Königshaus in Schockstarre kein Wort zur Staatskrise findet, ist ein Zeichen dafür, wie schlimm es um Spanien steht.

Diese Staatskrise müsste der Augenblick der Europäischen Union sein. Während die EU sich bei der Bestellung von Verfassungsrichtern in Polen oder der Verteilung von Migranten nach Ungarn gerne als Überstaat geriert und missliebigen Regierungen mit Sanktionen droht, lässt man Rajoy – wie vorher schon seinen unfähigen britischen Parteifreund Cameron beim Brexit – einfach gewähren.

Der Sprecher der EU-Kommission, Margaritis Schinas, sagte gestern: „Wir rufen alle beteiligten Akteure auf, jetzt schnell von der Konfrontation zum Dialog überzugehen.“ Gewalt könne nie ein Mittel der Politik sein. „Wir vertrauen auf die Führung von Ministerpräsident Mariano Rajoy, diesen schwierigen Prozess  im Rahmen der spanischen Verfassung unter Einhaltung der Grundrechte der spanischen Bürger zu bewältigen.“

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Es rächt sich, dass die EU einerseits nationalstaatliche Hoheitsfragen wie Grenzsicherung, Währung, Justiz immer weiter an sich gezogen hat, doch wenn es dadurch innerhalb einer Nation zu anarchischen oder wenigstens zentrifugalen Entwicklungen kommt, dann hält sich Brüssel an das Gebot der Nichteinmischung – als lebte Europa noch unter Fürst Metternich.

Wenig mehr als ein paar dürre Worte zur Einhaltung der Rechtstaatlichkeit waren von Angela Merkel denn auch nicht zu hören, wohl weil sie ihren treuen Paladin Rajoy nicht diskreditieren möchte.

Students hold placards depecting Sp
Studenten in Barcelona protestieren gegen Ministerpräsident Rajoy, der auf ihren Plakaten den früheren Diktator Franca küsst
Quelle: AFP

Dass aber auch EU-Präsident Jean-Claude Juncker zur spanischen Staatskrise nichts einfällt, ist ein weiteres Armutszeugnis der gesamten Institution. Schließlich flehen die Katalanen förmlich um eine Vermittlung der EU, denn der wollen sie ja nach einer Abspaltung unbedingt beitreten. Den Katalanen immerhin beizubringen, dass dies – siehe Brexit – so gut wie unmöglich ist und dass ihr Traum von Unabhängigkeit zu Isolation und noch größerer Wirtschaftskrise führen würde, wäre das Mindeste, was man von einer politischen EU-Kommission erwarten müsste.

Katalanen brauchen Angebote

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Darüber hinaus aber brauchen die verbitterten Katalanen auch Angebote. In einem zweiten Schritt müsste Spanien zu schnellen Reformen der Verfassung von 1978 gedrängt werden: Die Verteilung von Steuern, Polizeirechten und Sozialkassen sollte – am besten nach belgischem Vorbild – dringend neu ausgehandelt werden. Denn mit einem diskreditierten und tauben Rajoy kann es nun nicht mehr weitergehen.

Doch paradoxerweise halten diesem sturen Matador mächtige Köpfe in der EU weiter die Treue. In Frankreich möchte Emmanuel Macron nicht die Forderungen baskischer, korsischer, bretonischer oder eben auch katalanischer Minderheiten auf die Tagesordnung bekommen. Dasselbe gilt für die Belgier mit ihren aufsässigen Flamen oder Italien mit der widerborstigen Lega Nord entlang des Po oder mit Südtirol.

Wegen all dieser Denk- und Sprachtabus handeln die lethargischen Granden der EU weiter wie Bewohner eines Hauses, dessen Mieter intensiv über die neue Einbauküche beraten, während das Dach in Flammen steht.

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Wenn innerhalb Spaniens nicht schnell die abgebrochenen Brücken geflickt werden und – auch mit Nachhilfe aus dem Ausland – die Vernunft der demokratischen Mitte endlich wieder die Oberhand bekommt, dann droht einer wohlhabenden Region mitten im freiheitlichen Europa ein Bürgerkriegsszenario.

Das Trauerspiel der letzten Jahre von Griechenlands Bankrott über den flächendeckenden Triumph der Rechtsnationalisten und die Flüchtlingskrise mit offenen Grenzen bis hin zum Brexit geht weiter. Was völlig surreal schien, wurde in Europa plötzlich Wirklichkeit. Nun droht also auch noch Spanien zu zerbrechen. Nicht auszudenken, aber möglich, dass die katalanische Frage auch für die EU ein ungelöstes Problem zu viel bedeutet.

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