Die Separatisten in Barcelona feiern euphorisch. Der Alltag dürfte sie aber bald einholen. Denn die Unabhängigkeitserklärung richtet realen Schaden an.
Tausende von Katalanen haben am Freitagabend in euphorischer Stimmung vor dem Regionalparlament die Unabhängigkeitserklärung ihrer Legislative gefeiert. Die Fernsehbilder erinnerten fast an Szenen, die man in anderen Ländern nach dem Fall einer Diktatur sehen kann. Sie unterstrichen die Frustration über das Zusammenleben mit Madrid, die sich in einem bedeutenden Teil der katalanischen Bevölkerung breitgemacht hat.
Auf das Fest dürfte allerdings in den kommenden Tagen und Wochen die Ernüchterung folgen. Die Unabhängigkeitserklärung ist nicht mehr als ein symbolischer Akt ohne reale Konsequenzen für die Selbstbestimmung, solange sie weder von Madrid noch von irgend einem anderen Land der Welt anerkannt wird. Doch sie ist gleichzeitig auch ein Akt, der für Katalonien in nächster Zeit grosse Kosten und Gefahren mit sich bringen dürfte. Die damit entstandene Unsicherheit kann nicht nur in Katalonien, sondern in ganz Spanien beträchtlichen wirtschaftlichen Schaden bewirken. Eine Schwächung des Wachstums und ein weiterer Abzug von Firmen und Investitionen aus Katalonien dürften kaum zu verhindern sein.
Der Machtkampf in Katalonien könnte in den nächsten Tagen dramatisch werden. Ministerpräsident Rajoy ist nun gefordert bei der Durchsetzung seiner Massnahmen zur Übernahme der Regierungsgewalt in Katalonien. Es ist wohl selbst für ihn nicht ganz klar, wie dies letztlich genau geschehen soll. Die Regionalregierung ist mit der Publikation im Amtsblatt in Madrid vom Samstag offiziell abgesetzt. Rajoy hat am frühen Samstagmorgen auf dem Papier die Amtsgeschäfte des katalanischen Regierungschefs Carles Puigdemont übernommen. Doch letzterer befindet sich weiterhin als freier Mann in Barcelona und kann theoretisch seinen Untergebenen Anweisungen erteilen.
Ähnlich ist es im Fall der katalanischen Polizei, der Mossos: Deren Chef wurde von Rajoy abgesetzt, die Polizisten der Regionalregierung patrouillieren aber weiterhin in Katalonien und erklären, dass sie sich für die Sicherheit der Bevölkerung zuständig fühlen. Wessen Befehle führen sie aus? Um sich nicht nur auf dem Papier, sondern auch tatsächlich vor Ort in Katalonien durchzusetzen, liegt noch viel «Arbeit» vor Rajoy. Man muss davon ausgehen, dass es dabei zu gewaltfreiem oder auch zu gewaltsamem Widerstand kommen wird.
Wie gut Rajoy diese Aufgabe erledigt, wird wesentlich seine zweite grosse Herausforderung beeinflussen. In weniger als zwei Monaten, am 21. Dezember, sollen nach seinem Fahrplan in Katalonien vorzeitige Neuwahlen zum Regionalparlament stattfinden. Bei der letzten Wahl vor zwei Jahren erreichten die Separatisten eine absolute Mehrheit. Rajoy muss also zumindest einen Teil der Wähler umstimmen, will er einen erneuten Sieg der Unabhängigkeitsbefürworter verhindern. Dass er, wie am Samstag gemeldet, die stellvertretende Ministerpräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría mit der Übernahme der Verantwortung für die täglichen Amtsgeschäfte in Katalonien betrauen will, dürfte ihm kaum helfen. Sáenz gilt bei vielen Katalanen als rotes Tuch und als Scharfmacherin.
Sollte auch unter Madrids Kontrolle wieder eine separatistische Parlamentsmehrheit gewählt werden, so wäre dies ein eigentliches Fiasko für Rajoy. Die Unabhängigkeitsbefürworter wären gestärkt, und er käme dann wohl nicht mehr umhin, sich mit ihnen an den Verhandlungstisch zu setzen.