Kommentar

Jetzt braucht es Neuwahlen

Das System Merkel ist gescheitert: Die Kanzlerin schafft es erstmals nicht mehr, durch stille Diplomatie und politischen Pragmatismus eine Machtbasis für sich zu schaffen. Das Land sollte jetzt in aller Ruhe neue Wege gehen.

Peter Rásonyi
Drucken
Angela Merkel muss umdisponieren. (Bild: Christian Bruna / EPA)

Angela Merkel muss umdisponieren. (Bild: Christian Bruna / EPA)

Glücklich ist ein Land, das keine grösseren Probleme hat. Die seit mehr als vier Wochen verhandelten Sondierungen zur Bildung einer Koalition von CDU, CSU, FDP und Grünen in Deutschland sind in der Nacht gescheitert. Nicht wegen unüberbrückbarer Differenzen über existenzielle Probleme des Landes, über die grundlegende wirtschaftspolitische Ausrichtung oder das Eingehen internationaler Allianzen. Nein, die grössten Knackpunkte waren die Zahl der Familienangehörigen, die nach der Flüchtlingswelle von 2015 künftig ein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekommen sollten, und die Zahl der Kraftwerke, die weiter Kohle verbrennen dürfen. Ob im nächsten Jahr einige zehntausend oder einige hunderttausend Menschen aus Flüchtlingsgebieten nach Deutschland kommen, ändert an dem Elend wenig, dass 68 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind oder vertrieben wurden. Und ob zwei, drei Kohlekraftwerke früher oder später abgeschaltet werden, spielt für das Weltklima keine messbare Rolle.

Die Differenzen lagen also nicht in der ergebnisorientierten, praktischen Politik, dem Feld, auf dem die promovierte Physikerin Angela Merkel ihre unvergleichlichen Stärken hat. Nein, es ging um ideologische Differenzen, um die Identität der beteiligten Parteien. Diese waren die Parteichefs nicht bereit, auf dem Altar der Machtpolitik zu opfern, aus Sorge um die Zukunft der Partei. Das liegt in der Natur der parlamentarischen Demokratie und ist verständlich – besonders im Fall der FDP, die genau dieses Schicksal im Verbund mit den Unionsparteien erlebt hatte und dafür 2013 von den Wählern aus dem Bundestag geworfen worden war. Das Schwarzpeterspiel der gegenseitigen Anschuldigungen ist deshalb nicht angebracht.

Kein Grund zur Panik

Gleichwohl kommt das Scheitern von Jamaica einem Erdbeben gleich. Deutschland sind die Optionen zur Bildung einer Mehrheitsregierung ausgegangen. Das hat es noch nie gegeben. Allerdings, und das ist die Kehrseite des Scheiterns, kann sich das Land eine längere Phase der politischen Unsicherheit, des Explorierens und Experimentierens durchaus leisten. Deutschland ist überaus stark und stabil, in wirtschaftlicher, sozialer und institutioneller Hinsicht. Würde die nun misslungene Regierungsbildung das Land tatsächlich in eine Krise stürzen, dann hätten sich die Parteiführer wohl zusammengerauft. Jetzt besteht kein Grund zur Panik. Sowohl Deutschland wie auch die auf Reformen hoffende EU und die Wirtschaft können sich eine längere Phase der Lösungssuche leisten. Das Grundgesetz weist dafür den Weg. Diesem darf man nun getrost folgen.

Merkels Entzauberung

Am meisten dürften die nächtlichen Ereignisse der Bundeskanzlerin Angela Merkel zu denken geben. Der Einzug der Alternative für Deutschland in den Bundestag, mit der niemand koalieren will und mit der in ihrem heutigen unbestimmten Zustand auch niemand kann, und das einmalig schwache Abschneiden der Volksparteien CDU/CSU und SPD an der Bundestagswahl im September haben die Bundespolitik vor ganz neue Probleme gestellt. Diese konnte selbst eine geniale und hemmungslose Machtbrokerin wie Angela Merkel nicht mehr lösen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Merkel die Magie der Macht abhanden gekommen ist. Stattdessen stellt sich Ratlosigkeit ein.

Die naheliegende Antwort darauf ist es, das Volk zu befragen. Zwar sagten Meinungsumfragen bisher voraus, dass eine Neuwahl die Machtverhältnisse nicht wesentlich ändern würde. Doch das war vor dem Scheitern von Jamaica. Das Ereignis könnte jetzt eine ganz neue Ausgangslage für die Wähler geschaffen haben, auf die sie möglicherweise anders reagieren werden. Werden sie die kleinen Parteien bestrafen, die sich jetzt als Spielverderber gezeigt haben? Oder werden sie eine von ihnen stärken, um klare Machtverhältnisse zu schaffen? Werden sie ihre Enttäuschung mit noch mehr Stimmen für die AfD demonstrieren? Oder werden sie vielmehr die in die Opposition abgetauchte SPD wieder stärken? Prognosen sind in der heutigen Lage kaum möglich. Grund genug, die Wähler zu befragen.