Der Dichter der römischen Klassik, Vergil, spricht im ersten Gedicht seiner „Bucolica“ von zwei wie heimatvertrieben umherwandernden Hirten, die das Los von ihresgleichen beklagen, verschlägt es doch manche, so seufzen sie, sogar „weit zu den Briten, die jenseits wohnen vom Erdkreis“.
Es ist nicht auszuschließen, dass wir 2000 Jahre nach diesem literarischen Seufzer Anlass finden, ihn erneut, mit einem realen Bedauern, auszustoßen – über die Briten, die jenseits wohnen von der Europäischen Union. Denn die Debatte um den Verbleib Großbritanniens in der EU, im Vorlauf zum Referendum am 23. Juni, hat urplötzlich eine Wende genommen, die ein britisches Ausscheren wahrscheinlicher machen könnte.
Der Meister des politischen Populismus, Londons Bürgermeister Boris Johnson, hat sich am Wochenende ins Lager der Brexit-Befürworter gestellt und damit den Euro-Skeptikern just jenen Trumpf zugespielt, der ihnen bisher fehlte: einen Namen, der überall im Lande bekannt ist, sich höchster Einschaltquoten erfreut, kurz, eine Ikone des erstrebten Abfalls von der amtlichen vorgegebenen EU-Treue.
Gewiss, Popularität allein macht noch kein politisches Schwergewicht, und die Menschen, die sich von diesem Mann und seinem Flair unterhalten lassen, werden sich in vielen Fällen ihren eigenen Reim auf seine politische Befähigung machen, nicht unbedingt immer einen positiven. Dennoch bedeutet das Charisma des Boris Johnson viel, es wird die zum Brexit bereits Bekehrten in ihrer Ansicht bestätigen, aber vor allem im großem Lager der Unentschlossenen Neigung wecken, ihm zu folgen. Denn seine Argumente haben die Verführungskraft einer simplen Botschaft:
Die Europäische Union, unreformierbar in ihrem jetzigen Zuschnitt, steht dem Souveränitätsstreben des Landes im Wege und verletzt damit eine der Konstanten der britischen Mentalität – den Wunsch, „nicht von Ausländern beherrscht zu werden“, wie George Orwell es einst formulierte.
Europa nicht mit der EU verwechseln
Für Johnson und die sechs Mitglieder von Camerons Kabinett, die wie er den Brexit befürworten, hat dies Ausland heute einen Namen: Brüssel. Johnson mag die Stadt, wie er in seiner Montagskolumne im „Daily Telegraph“ schreibt, er mag auch Europa, „die Heimat der großartigsten und reichsten Kultur in der Welt, zu der auch Britannien beiträgt und immer beitragen wird“.
Aber er wehrt sich entschieden dagegen, „Europa mit dem politischen Projekt einer Europäischen Union zu verwechseln“. Daher sieht er „nichts Antieuropäisches oder Xenophobes darin, am 23. Juni für einen Austritt zu stimmen“. Denn Brüssel hat sich nach seiner Meinung seit der Zeit, als er von dort vor fast 30 Jahren für den „Daily Telegraph“ berichtete, zu einem Herrschaftskoloss aus Glas- und Stahlpalästen gewandelt, der nichts mehr mit der Gemeinschaft zu tun hat, der die Insel vor 40 Jahren beitrat. Ergo: „Nicht wir haben uns verändert, sondern die Europäische Union.“
Für Johnson und seinesgleichen fällt das Urteil über die heutige EU vernichtend aus. Der Club der 28 ist wirtschaftlich im Abstieg, zumindest stagniert er, verliert im Weltmaßstab an Gewicht; seine Wettbewerbsfähigkeit lahmt; der Euro kommt nicht aus der Krise heraus; ein erstickender fiskalischer Konsens treibt eine ganze Generation von Jugendlichen in die Arbeitslosigkeit; das Prinzip der offenen Grenzen ist angesichts der Flüchtlingsfrage nicht mehr haltbar.
Einem Leser, der diese Argumente auf sich wirken lässt, fällt zur Charakterisierung des britischen Willens zum Aufbruch in eigene Kreativität vielleicht die Umkehr eines alten geflügelten Wortes ein: Das Schiff verlässt die sinkenden Ratten ...
Brexit ist keine Krankheit
Aber die EU darf Brexit nicht wie eine Krankheit abtun, die schon nicht ausbrechen werde. Mehr steht hier vor uns als eine ökonomische Beschwerdeliste. Der Haupteinwand, die Souveränitätsfrage, hat eine juristische Begründung – bei Johnson, aber vor allem auch beim gegenwärtigen Justizminister Michael Gove, der früher das Ressort Schule und Erziehung innehatte.
Gove erinnert sich, „wie alles, von Anleitungen zum Verhalten im Unterricht über Examensleitlinien bis zu Vorschriften über den Schulbau heimischen Experten unterlag, die jeweils europäische Direktiven schwenkten.“ Der größte Stein des Anstoßes ist der Europäische Gerichtshof, der nationales Recht überwölbt und vor allem in seiner Obersten Instanz für Menschenrechte, in Luxemburg, der britischen Politik Vorschriften machen kann, gegen die sie kein Rechtsmittel hat, und gegen die auch das Parlament machtlos ist.
Dem hält Gove entgegen: „Die Entscheidungen, die unser Leben regieren, die Gesetze, denen wir alle gehorchen, sollen aber von Menschen festgelegt werden, die wir wählen und die wir hinauswerfen können, wenn wir einen Wechsel wünschen.“ Simpler ist das viel zitierte Demokratiedefizit der EU nicht darzustellen.
Die britische Demokratie lebt besonders stark von der Nabelschnur zwischen Volksvertretern und Wählern. Entscheidungsträger auf europäischer Ebene, die man nicht gewählt hat, werden als fremd und anstößig empfunden. „Wir unterliegen einer legalen Kolonisierung“, schreibt Johnson, man hat sich an das europäische Rechtsapriori gewöhnt, „die Nanny Brüssel hat uns infantilisiert.“
Es geht um nationale Urinstinkte
Am 23. Juni geht es vor allem um dies: nationale Urinstinkte, die das Brexit-Lager, mit Johnson als Aushängeschild, zu wecken versteht. Dem Bürgermeister von London darf man dabei durchaus abnehmen, dass er aus Prinzip argumentiert, nicht aus einem Machtkalkül heraus.
Er geht sogar das Risiko ein, beim Referendum zu verlieren und dann in der Gunst der Downing Street zurückzufallen. Seinem Standing im Volk wird das weniger antun, als wenn er wider seine Überzeugung in der Europafrage zu Cameron gehalten hätte. Insofern bleibt seine Ambition um die Cameron-Nachfolge unbeschädigt.
Wir schauen in diesen Wochen viel auf Amerika, und welcher Zukunft die Welt mit der Wachablösung im Weißen Haus entgegengehen mag. Eine folgenreichere Ablösung droht der Europäischen Union, wenn Großbritannien sie verließe.
Nirgendwo in Europa wird die Demokratiefrage so scharf unter das Souveränitätsmikroskop gelegt wie auf der britischen Insel. Sie hat sich ein Gefühl von nationaler Eigenart bewahrt, das sogar den Sprung in die Selbstständigkeit wagen würde. Auf diese Eventualität muss sich eine ohnehin schon angeschlagene EU jetzt einstellen.