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Kein Brexit

Von den vielen existenziellen Herausforderungen, mit denen die Europäische Union dieses Jahr konfrontiert wird – Flüchtlingskrise, populistische Strömungen in der Politik, von Deutschland propagierte Austerität, Staatspleite in Griechenland und vielleicht auch Portugal – scheint eine auf dem Weg zu einer Lösung zu sein: Das Vereinigte Königreich wird sich nicht für den Austritt aus der EU aussprechen.

Gewiss, diese zuversichtliche Prognose widerspricht allen Umfragen. Sie zeigen eine rund 50%ige Zustimmung zum Austritt in der Abstimmung im Juni an. Und die öffentliche Meinung dürfte noch länger immer mehr zum Brexit neigen, angeheizt von den Euroskeptikern, die den am EU-Gipfel vom 19. Februar ausgehandelten «neuen Deal» für Grossbritannien verhöhnen.

Dennoch ist Besorgnis fehl am Platz. Angesichts der politischen wie auch der ökonomischen Konstellation in dieser Frage ist so gut wie sicher, dass die britischen Stimmbürger die weitere EU-Mitgliedschaft befürworten werden, auch wenn die öffentlichen Umfragen bis wenige Wochen oder gar Tage vor der Abstimmung ein anderes Bild zeichnen.

Meinungsmonopol auf Zeit

Beginnen wir mit der politischen Dynamik, die für ein Ja zum Verbleib in der EU spricht. Bis zum EU-Deal diesen Monat haben Grossbritanniens Politiker so gut wie gar nicht gegen den Brexit argumentiert. Premier Cameron und seine Regierung mussten ja so tun, als zögen sie den Austritt tatsächlich in Erwägung, sollte die EU ihre Forderungen zurückweisen.

Unter diesen Umständen war es für Labour-Politiker wie auch für Wirtschaftsführer unmöglich, offiziell für den EU-Deal einzustehen, den ja Cameron selbst noch nicht befürworten konnte. Die Brexit-Lobby genoss dementsprechend ungeteilte Aufmerksamkeit. Dies dürfte noch eine Weile so bleiben, auch wenn man sich mittlerweile auf einen Deal geeinigt hat, denn Cameron will die erbitterten Euroskeptiker in seiner Partei nicht gegen sich aufbringen, solange es nicht unbedingt nötig ist. Doch sobald die Abstimmung näher rückt, wird sich dieses politische Ungleichgewicht schlagartig verändern.

Ein Grund ist Camerons Entscheidung, für seine Minister während der Abstimmungskampagne die Parteidisziplin aufzuheben. Anfänglich als Schwäche gedeutet, hat sich dieser Schachzug mittlerweile als Meisterleistung entpuppt. Angesichts der Freiheit, in Sachen EU-Deal «ihrem Gewissen zu folgen», haben die meisten bedeutenden Konservativen – mit Boris Johnson und Michael Gove als namhaften Ausnahmen – eingelenkt, Cameron zu unterstützen.

Das Blatt wird sich wenden

Die Pro-Brexit-Kampagne ist dementsprechend führerlos geblieben. Bereits hat sie sich in zwei rivalisierende Lager aufgespalten – die Anhänger von Protektionismus und Immigrationsgegner auf der einen, die Verfechter von neoliberaler Wirtschaft und Freihandel auf der anderen Seite.

Man kann getrost davon ausgehen, dass Medien und Wirtschaft in Grossbritannien sich dem Stimmungsumschwung anschliessen werden, wenn die politische Stimmung kehrt – vor allem wegen handfester finanzieller Interessen. Rupert Murdoch etwa, dessen Plattformen die Medienlandschaft Grossbritanniens dominieren, braucht den EU-Binnenmarkt, um sein Satelliten-TV-Geschäft in Grossbritannien, Deutschland und Italien zu konsolidieren. Und nicht zuletzt werden Murdoch wie auch andere Medienunternehmer und Wirtschaftsführer auf der Seite der Gewinner stehen und die guten Beziehungen mit Cameron aufrechterhalten wollen – solange sie keine zweifelsfreien Anzeichen erkennen können, dass er verlieren wird.

Und schliesslich der wichtigste Grund, warum man die gegenwärtigen Umfragen ignorieren kann: Erst wenn eine ernsthafte Debatte über die Kosten und die Vorteile der EU-Mitgliedschaft für Grossbritannien beginnt – was vielleicht erst wenige Wochen vor der Abstimmung der Fall sein wird –, wird den Stimmbürgern klar werden, dass der Brexit für Grossbritannien riesigen wirtschaftlichen Schaden und keinerlei politische Vorteile nach sich ziehen würde.

Dienstleister brauchen Europa

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Zuge des EU-Austritts wären enorm. Das Hauptargument der Brexit-Kampagne – Grossbritanniens grosses Handelsdefizit sei seine Stärke, da die EU bei einem Einbruch der Handelsbeziehungen mehr zu verlieren habe – ist falsch. Grossbritannien müsste für seine Service-Branchen den Zugang zum europäischen Markt neu verhandeln. EU-Produzenten hingegen könnten ihre Waren unter den Regelungen der Welthandelsorganisation WTO nach Belieben und ohne jegliche Einschränkungen in Grossbritannien verkaufen.

Margaret Thatcher hatte als Erste realisiert, dass Grossbritanniens Spezialisierung auf Dienstleistungen – nicht nur im Finanzsektor, sondern auch in den Bereichen Recht, Rechnungswesen, Medien, Architektur, Pharmaforschung usw. – die Teilnahme am EU-Binnenmarkt unabdingbar macht. Für Deutschland, Frankreich oder Italien ist es hingegen unerheblich, ob Grossbritannien Mitglied der EU ist oder bloss der WTO.

Grossbritannien bräuchte also ein Assoziierungsabkommen mit der EU, ähnlich wie dasjenige der Schweiz oder Norwegens, der einzigen beiden bedeutenden Volkswirtschaften Europas ausserhalb der EU. Aus Sicht der EU müssten die Bedingungen eines solchen Abkommens mindestens ebenso strikt sein wie diejenigen der bestehenden Assoziierungsverträge, denn Zugeständnisse an Grossbritannien würden zwangsläufig die Frage entsprechender Konzessionen auch an die Schweiz und Norwegen aufwerfen. Schlimmer noch: Jegliche Sonderrechte für Grossbritannien gälten als Präzedenzfall und wären für andere nur halbherzig mitmachende EU-Mitglieder ein Anreiz, ebenfalls mit dem Austritt zu drohen und Neuverhandlungen zu fordern.

Keine «Schweizer Lösung»

Von den Bedingungen, die Norwegen und die Schweiz akzeptiert haben und die die EU mit Sicherheit als nicht verhandelbar betrachten würde, laufen vier den politischen Zielen des Brexit komplett zuwider. Norwegen und die Schweiz müssen sämtliche Regulierungen und Standards des europäischen Marktes einhalten, ohne allerdings bei ihrer Ausgestaltung mitreden zu können. Sie verpflichten sich, alle relevanten EU-Gesetze in nationales Recht zu überführen, ohne Abstimmung durch die jeweilige Bevölkerung. Sie tragen in substanziellem Masse zum EU-Haushalt bei. Und sie müssen unbeschränkte Zuwanderung aus der EU akzeptieren, sodass der Anteil EU-Einwanderer an ihrer Bevölkerung deutlich höher ist als im UK.

Sollte Grossbritannien diese Eingriffe in die nationale Souveränität verweigern, würden seine Dienstleistungszweige vom gemeinsamen Markt ausgeschlossen. Frankreich, Deutschland und Irland dürften mit einiger Freude zuschauen, wie britische Banken und Hedge Funds durch EU-Regulierungen zurückgebunden werden und in Grossbritannien domizilierte Vermögensverwaltungs-, Versicherungs-, Buchführungs-, Rechts- und Medienunternehmen gezwungen sind, Arbeitsplätze und Hauptsitze – und Steuerzahlungen – nach Paris, Frankfurt oder Dublin zu verlegen.

Angesichts eines solchen Exodus würde Grossbritannien zweifellos klein beigeben und die einschneidende EU-Regulierung nach dem Vorbild der Norwegen- und der Schweiz-Assoziierungsabkommen akzeptieren. Letzten Endes würde der Brexit also nicht nur eine disruptive Neuverhandlung der wirtschaftlichen Beziehungen erzwingen, sondern bedeutete für Grossbritannien auch eine Einbusse an politischer Souveränität.

Vielleicht aber nicht für das Vereinigte Königreich, sondern lediglich für England. Nicht auszuschliessen nämlich, dass Schottland dann das UK verlassen und in die EU zurückkehren würde – wobei zahlreiche Arbeitsplätze von London nach Edinburgh abwandern würden. Sobald Politik, Wirtschaft und Medien diese harten Fakten eines Lebens nach dem Brexit in den Vordergrund rücken, kann man getrost davon ausgehen, dass sich Grossbritanniens Stimmbürger für den Verbleib in der EU entscheiden.

Copyright: Project Syndicate.