Nun können wieder einmal Gegner und Befürworter einer EU-Mitgliedschaft der Türkei darüber miteinander streiten, wer von ihnen es besser gewusst hat: jene, die immer der Meinung waren, dass die Türkei in der europäischen Wertegemeinschaft keinen Platz habe, und die anderen, die meinen, die Frustration über die europäische Ablehnung habe die Türkei in die Gegenrichtung getrieben. Wer immer von beiden Lagern recht hat, es ist bestürzend zu sehen, wohin die Türkei unter der Führung von Recep Tayyip Erdogan driftet.

Gewisse Werte

Und mindestens ebenso bestürzend ist es, dass Europa durch die Unfähigkeit, mit dem Flüchtlingsproblem fertigzuwerden, zu einer so engen Kooperation mit der Türkei wie nie zuvor gezwungen ist. Und da ist auch gleich ehrlicherweise festzustellen, dass auch innerhalb der EU gewisse Werte, die als unanfechtbar galten, es plötzlich nicht mehr sind.

Vormund der Nation

Ein Alleinstellungsmerkmal der türkischen Führung ist jedoch die paternalistische Art, mit der Erdogan, Vormund der Nation, alle Manifestationen der türkischen Gesellschaft in richtig und falsch einteilt. In so einer Umgebung hat regierungskritischer Journalismus kein leichtes Leben. Und wenn ihm – wie im Falle der zwei Cumhuriyet-Journalisten, die vor einer Woche nach dreimonatiger Haft freigelassen wurden – der Verfassungsgerichtshof zu Hilfe kommt, dann erklärt Erdogan ganz einfach, dass der Richterspruch aus seiner Sicht nicht gelte.

Zynische Ankündigung

Seit gestern prangt auf der Homepage der vom Staat handstreichartig übernommenen Zeitung Zaman die zynische Ankündigung, sie werde künftig als "unabhängiges Medium" geführt. Auf die weltweite Kritik antwortet die türkische Regierung mit der Versicherung, das sei eine rein juristische – doch keine politische! – Angelegenheit gewesen. Das Recht, c'est moi, so hätte es Erdogan gern. (Gudrun Harrer, 6.3.2016)