SN.AT / Politik

Flüchtende Menschen werden zu politischen Waffen

Es ist zynisch, aber wahr: Potentaten sagen, sie wollten Flüchtlingen helfen. Doch sie setzen Vertriebene zum Machtgewinn ein.

Helmut L. Müller

Es war ein "Pakt mit dem Teufel". Libyens Herrscher Muammar al-Gadafi galt als Terror-Sponsor, der an der Atombombe bastelte. Dennoch hoben die EU-Staaten die Sanktionen gegen den Despoten auf. Denn Gadafi setzte Menschen als politische Waffen ein, indem er versprach, den Europäern afrikanische Flüchtlinge vom Leib zu halten. Seit dem Sturz Gadafis aber ist niemand mehr da, der für die EU-Länder den Schleusenwärter spielen könnte. Vom zerfallenden Libyen aus kann sich jederzeit ein Flüchtlingsstrom in Gang setzen.

Jetzt argwöhnen Kritiker wieder einen "Pakt mit dem Teufel". Diesmal ist von der Türkei die Rede, die für Europa den Flüchtlingsstrom eindämmen soll. Das ist vielen in der EU ungeheuerlich, denn dieses Land erscheint nicht als vertrauenswürdiger Partner. Indem wir die Türkei als Grenzwächter einstellen, demonstrieren wir, wie sehr die Migration mittlerweile zu einem Mittel in der Geopolitik geworden ist.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat mitten in Verhandlungen mit der EU schon einmal explizit damit gedroht, dass sein Land gegebenenfalls Hunderttausende Menschen nach Europa ziehen lassen könnte. Die Migrationskrise hat die Machtverhältnisse zwischen Ankara und Brüssel umgekehrt: Die Türkei ist nicht länger eine Bittstellerin, die vor den Toren der EU warten muss; sie ist jetzt vielmehr ein politischer Akteur mit großem Einfluss, der finanzielle Leistungen und politisches Entgegenkommen verlangen kann. Das bedeutet erhebliches Druck-, ja Erpressungspotenzial.

Jener, der den Exodus steuern kann, bestimmt das Geschehen. Zu erkennen ist das daran, dass Ankara die Flüchtlingsfrage nützt, um Forderungen durchzusetzen, die mit diesem Thema im Grunde gar nichts zu tun haben. Die Aufhebung der Visapflicht für türkische Staatsbürger etwa bringt der Führung in Ankara politisches Prestige beim eigenen Volk, wird aber für viele EU-Staaten zu einer Horrorvorstellung. Denn der Krieg der türkischen Armee im Südosten des Landes könnte Hunderttausende kurdische Flüchtlinge nach Europa drängen und hierzulande kurdisch-türkische Spannungen anfachen.

Auch als die russische Luftwaffe an der Seite der syrischen Streitkräfte immer heftiger bombardierte, wurde ein Vorwurf ganz laut: Zehntausende Menschen sollten so in die Flucht getrieben werden, um Europa unter Druck zu setzen. Die Flüchtlingskrise bedrängt und entzweit die EU; ein geschwächtes und gespaltenes Europa passt präzise ins Kreml-Kalkül.

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