Der brutale Überlebenskampf des IS-"Kalifats"

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Die Extremisten des Islamischen Staates haben viel von ihrer militärischen Macht eingebüßt. Das macht sie für Europa vorerst noch gefährlicher als bisher.

Sie hatten mit allen Mitteln versucht, die Katastrophe zu verhindern. Spezialeinheiten der belgischen Polizei durchkämmten das Brüsseler Problemviertel Molenbeek, stürmten Wohnungen von Verdächtigen. Im November – kurz nach den Attentaten in Paris – verhängten die Behörden gleichsam den Ausnahmezustand über Brüssel. Schulen und U-Bahnen blieben geschlossen, die „Hauptstadt“ der EU war lahmgelegt. Zwar gelang es den Sicherheitskräften – wenn auch erst nach Monaten –, den Kopf der Pariser Attentäter, Salah Abdeslam, zu verhaften. Beschützen vor dem Terror konnten sie Brüssel trotzdem nicht. Nicht einmal die neuralgischen Punkte der Stadt, an denen Anschläge grundsätzlich zu erwarten sind: den Flughafen und die U-Bahn.

Es sind die schlecht funktionierenden Staatsstrukturen in Belgien, die zuletzt eine bessere Koordination der verschiedensten Polizeibehörden im Antiterrorkampf behindert haben. Dazu kommt, dass die Untergrundnetzwerke offenbar abgeschirmter agieren, als das den Sicherheitskräften klar war. Anschläge benötigen nicht mehr so viel Logistik wie früher: Heute steuern Terroristen nicht mehr Flugzeuge in Hochhäuser wie am 11. September 2001. Sie setzen Sprengstoff und Schusswaffen gegen leichter anzugreifende Ziele ein – morden in Cafés oder Konzertsälen, so wie in Paris. Die Extremisten versenden damit zugleich eine furchtbare Botschaft: Jeder ist ein Terrorziel. Es kann jeden jederzeit erwischen.

Jihadistenorganisationen wie die verschiedensten al-Qaida-Gruppen und der Islamische Staat (IS) wollen die attackierten Gesellschaften verunsichern – versuchen, in Europa einen Ausnahmezustand herbeizubomben. Schon die al-Qaida-Ideologen träumten von der Wahnidee eines Weltkrieges zwischen „den Muslimen“ und „den Ungläubigen“ – von einem Konflikt, der auch als Bürgerkrieg in Europa ausgefochten werden sollte.

Auf diesem ideologischen Pfad wandelt auch der IS. „Von Heuchelei zum Abfall vom Glauben“ schreiben die Autoren in einer der Ausgaben des IS-Internetpropagandamagazins „Dabiq“ unter ein Foto, das muslimische Geistliche mit einem Schild zeigt, auf dem „Je suis Charlie“ zu lesen ist. Der IS reagierte damit auf die Solidaritätskundgebung vieler Muslime mit den Opfern des Attentats auf die französische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. „Das Auslöschen der Grauzone“ hieß der dazugehörige Artikel in „Dabiq“.

Die Botschaft der Extremisten: Es gibt kein Grau – nur Schwarz oder Weiß, Freund oder Feind. Eine Gesellschaft, in der Muslime, Christen, Juden, Angehörige anderer Religionen, Agnostiker, Atheisten friedlich und gleichberechtigt zusammenleben, ist aus IS-Sicht eine Bedrohung. Der IS will die christliche Mehrheitsbevölkerung und die Muslime in Europa gegeneinander aufhetzen, für sein Ziel: eine apokalyptische Schlacht zwischen seinen Anhängern und dem Rest der Menschheit.

In der realen Welt – außerhalb seines bizarren ideologischen Gedankengebäudes – scheint der IS für große Militäroperationen aber nicht mehr gerüstet. In Syrien und im Irak hat er weite Gebiete verloren. Er bunkert sich in seinen Hochburgen Raqqa und Mossul ein, wartet auf die Gegenoffensiven kurdischer Einheiten und der irakischen Armee. Je mehr der IS jedoch auf den Schlachtfeldern ins Hintertreffen gerät, desto stärker wird er versuchen, „weiche Ziele“ anzugreifen – also Attentate in Europa durchzuführen. Das soll von seinen Niederlagen ablenken, ihn weiterhin für ausländische Kämpfer attraktiv halten.


Die militärischen Maßnahmen gegen das IS-Herrschaftsgebiet haben Erfolge gezeitigt. Sie gilt es fortzusetzen – zusammen mit der Suche nach Lösungen für die komplizierten politischen Probleme in Syrien und im Irak.

In Europa müssen zugleich größere Anstrengungen unternommen werden, um junge Männer und auch Frauen davon abzuhalten, sich extremistischen Gruppen anzuschließen. Und die Behörden müssen für weitere Attentate gewappnet sein: Denn der IS kämpft in Syrien und im Irak ums Überleben. Und das könnte ihn in Europa noch gefährlicher werden lassen als bisher.

E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2016)

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