Kommentar

Gefangen im System

Die ukrainische Elite steckt in einer tiefen Vertrauenskrise. Sie wird sich nur daraus befreien können, wenn die neue Regierung die Justiz reformiert. Nur so lässt sich die Korruption besiegen.

Christian Weisflog
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95 Prozent der ukrainischen Bevölkerung sind mit dem Abgang ihres Ministerpräsidenten, Arseni Jazenjuk, einverstanden. (Bild: Imago)

95 Prozent der ukrainischen Bevölkerung sind mit dem Abgang ihres Ministerpräsidenten, Arseni Jazenjuk, einverstanden. (Bild: Imago)

Die ukrainische Elite steckt in einer Vertrauenskrise. Sinnbildlich dafür ist das unterirdische Rating des abtretenden Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk. Nur noch fünf Prozent der Bevölkerung wollen ihn als Regierungschef sehen, noch weniger würden für seine Partei Volksfront stimmen. Das Parlament bewertete die Arbeit von Jazenjuks Regierung im Februar als «unbefriedigend». Es ist jedoch gar zu einfach, einzig Jazenjuk zum Sündenbock zu stempeln. Erstens ist nach einer Revolution fast jede Reformregierung in der Regel zum Untergang verdammt. Zweitens ist auch Präsident Petro Poroschenko und indirekt ebenso die Maidan-Bewegung mitverantwortlich für die Krise. Die demokratische Protestbewegung hatte es verpasst, eine eigenständige politische Kraft im Parlament zu etablieren, um Reformen voranzutreiben.

Wirtschaftlich lässt sich Jazenjuks Bilanz sehen. Das Haushaltsdefizit ist auf 2,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts geschrumpft, die Inflation geht stark zurück, die Industrieproduktion wächst wieder. Ein zentrales Anliegen der Maidan-Revolution aber war der Kampf gegen die grassierende Korruption. Rund ein Drittel der Ukrainer sind der Meinung, dass die Korruption heute noch verbreiteter ist als vor dem Umsturz. Zu bedenken ist dabei jedoch, dass viele Gesetze und Institutionen zur Korruptionsbekämpfung erst seit kurzer Zeit in Kraft sind und Wirkung entfalten können. Andere Reformen wie zum Beispiel die Parteienfinanzierung werden erst bei den nächsten Urnengängen spürbar sein.

Das Parlament ist immer noch von Parteien dominiert, die über keine breite Mitgliederbasis verfügen und auf die Finanzierung durch Oligarchen angewiesen sind. Das Gleiche gilt für die Medienlandschaft, deren grosse Fernsehkanäle sich ebenfalls in Oligarchen-Hand befinden. In diesem System ist die politische Elite, die sich durch die Revolution nur teilweise erneuert hat, gefangen. Geld ist Macht, und Macht ist Geld, und wer nicht mitspielt, fliegt raus. Vielleicht mag auch das ein Grund sein, warum sich Poroschenko letztlich nicht so schnell von seinem Wirtschaftsimperium trennen wollte wie versprochen.

Unter dem Druck der Strasse, der russischen Aggression und der westlichen Geldgeber wurden zwar viele Reformen eingeleitet, aber sie stossen dort auf zunehmenden Widerstand, wo sie Pfründen und Einfluss der alten Elite gefährden. Bestes Beispiel dafür ist der Auslöser dieser Regierungskrise: der Rücktritt von Wirtschaftsminister Aivaras Abromavicius. Der unbescholtene Reformer erklärte, dass Ihor Kononenko, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Poroschenkos Partei, seit Monaten Druck auf ihn ausübe, bestimmte Personen auf leitende Posten in lukrativen Staatsbetrieben zu setzen. Seither konnten Poroschenko und die ganze politische Elite den Verdacht nicht ausräumen, dass die Vetternwirtschaft hinter der schönen neuen Reformkulisse weitergeht wie früher. Eine souveräne Reaktion wäre die Einsetzung eines Technokratenkabinetts mit eingefleischten Reformern gewesen. Doch stattdessen hat sich die ehemals aus fünf Parteien bestehende prowestliche Koalition im Kampf um Regierungsposten heillos zerstritten.

Um Neuwahlen zu verhindern, setzt Poroschenko nun auf eine Zweierkoalition mit Jazenjuks Volksfront und einen eigenen Ministerpräsidenten: Der erst 38-jährige Wolodimir Hroisman wurde von Poroschenko bereits als Lokalpolitiker entdeckt und gefördert. Um die notwendigen 226 Stimmen zu bekommen, versucht die Poroschenko-Partei die Abgeordneten anderer Parteien abzuwerben. Eine wenig demokratische Methode, die früher auch vom gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch gepflegt wurde.

Neuwahlen indes wären sehr riskant: Es ist nicht sicher, ob die Bürger erneut für Parteien stimmen werden, die ihnen schmerzhafte Reformen und eine strenge Budgetdisziplin versprechen. Zudem würden die internationalen Geldgeber fällige Kredite von über drei Milliarden Dollar zurückhalten. Und auch nach Neuwahlen würde die Regierungsbildung wohl erneut in Streitigkeiten enden. Egal aber, wie eine neue Regierung entsteht. Entscheidend wird sein, ob sie sich an das bisher grösste Versäumnis wagt: die Reform der Gerichte und der Staatsanwaltschaft. Ohne dies nützen die besten Gesetze zur Korruptionsbekämpfung nichts. Und nur so kann sich die Ukraine vom alten System befreien.

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