Türkei:Die Not der Türkei ist eine Chance für Merkel

Türkei: Kanzlerin Merkel während ihres Türkeibesuchs

Kanzlerin Merkel während ihres Türkeibesuchs

(Foto: AFP)

Die Türkei ist schwächer, als sie zugibt. Merkel bekommt dadurch die Möglichkeit, auf Erdoğan einzuwirken - wenn sie bei den Menschenrechten nicht weich wird.

Kommentar von Stefan Braun

Fünf Stunden in der Südtürkei haben die Welt nicht verändert. Da mag der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu zum Abschluss der Kurzvisite von Angela Merkel, Donald Tusk und Frans Timmermans noch so pathetisch erklären, die Welt schaue auf dieses Ereignis - die Probleme bleiben. Sie bleiben beim EU-Abkommen mit der Türkei; sie bleiben bei den Millionen Flüchtlingen, die auf das Ende des syrischen Bürgerkriegs hoffen; und sie bleiben beim Thema Pressefreiheit und Menschenrechte.

Auch wenn die Kooperation noch so entschlossen beschworen wird: Der Streit über Rechte und Freiheiten von Medien, Künstlern, Andersdenkenden trennt Türken und Europäer weiter. Der Konflikt um ein deutsch-armenisches Konzertprojekt in Dresden eröffnet das nächste Kapitel. Andere werden folgen. Stellt sich also die Frage: Sollte man es lassen? Sollte man sagen, dass die Türkei zu weit weg ist von den eigenen Grundwerten und man mit ihr deshalb kein Abkommen schließen dürfe?

Beim Stande der Dinge sollte man das nicht tun. Ein nüchterner Blick auf die Landkarte zeigt, dass es bei dieser Krise mit Millionen Flüchtlingen nur eine wirkliche Alternative gäbe: Griechenland mit seiner herrlichen, in diesem Fall aber geografisch unglücklichen Meerlage allein zu lassen. Ja, die Kooperation mit der Türkei ist eine einzige große Baustelle. Aber wer Griechenland nicht aufgeben und nicht aus dem Schengen-Raum stoßen möchte, wer auf die Krise solidarisch, nicht egoistisch reagieren möchte, dem bleibt nur der Weg, mit Ankara eine Lösung zu suchen.

Die Türkei ist in einer prekären Lage

Das bedeutet nicht, dass alle türkischen Zumutungen geschluckt werden müssen. Das Gegenteil ist richtig. Gerade weil die Europäer zur Zusammenarbeit bereit sind, ergeben sich auch Möglichkeiten, die Türkei zu verändern. Die Beziehungen sind angesichts der vielen Konflikte wie dem um Jan Böhmermann nie selbstverständlich. Aber die Europäer erliegen ihrem Innenblick, wenn sie sich selbst nur in der Not sehen und den Türken unterstellen, sie könnten nach Belieben schalten und walten.

Jenseits aller von Davutoğlus Partei organisierten Jubelszenen mit dem Trio aus Europa: Die Türkei ist in einer prekären Lage, im Innern wie nach außen. Das Land ist umgeben von Kontrahenten oder Feinden. Ob Syrien, Irak, Iran oder Russland im Norden - mit keinem Nachbarn gibt es ein gutes Auskommen. Im Inneren ist die Situation so angespannt wie lange nicht.

Deshalb braucht die Türkei Europa

Der Bürgerkrieg mit den Kurden im Südosten, dazu die IS-Anschläge auf eigenem Boden - da mögen martialische Erklärungen der türkischen Regierung mutig und entschlossen klingen. Tatsächlich aber dominiert in Ankara längst die Angst, dass dem Land die Probleme über den Kopf wachsen. Deshalb braucht die Türkei Europa - auch wenn sie das niemals offen aussprechen würde. Es könnte ja als Zeichen der Schwäche interpretiert werden.

Kein Schweigen, keine Ruhe, keine Beschwichtigungen

Wo so viel Not ist, könnte sich also auch eine große Chance eröffnen. Wer sie ergreifen will, muss drei Dinge erledigen: Erstens muss die EU die zugesagten Milliarden tatsächlich so einsetzen, dass die Flüchtlinge und ihre Kinder in der Türkei eine Perspektive erhalten. Zweitens muss aus den Verhandlungen mit der Türkei ein Ergebnis auch für Flüchtlinge etwa aus dem Irak oder aus Afghanistan erwachsen, die bislang als Verlierer des Abkommens gelten müssen. Für sie fehlt noch immer eine Schutzgarantie. Beim Besuch Merkels war das beschämenderweise kein Thema. Und drittens darf es in der Debatte über Meinungsfreiheit kein Schweigen, keine Ruhe, keine Beschwichtigungen geben. Dass Merkel unmittelbar vor ihrer Reise ihre Bewertung des Böhmermann-Gedichts selbst als falsch kritisierte, könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Kanzlerin das inzwischen verstanden hat.

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