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Peter Müller

Türkei-Deal und Visafreiheit Kaum noch Tote - immerhin

Die EU wird die Visumspflicht für türkische Staatsbürger abschaffen, unproblematisch ist das nicht. Doch alle Alternativen wären schlimmer.
Flüchtlingskinder in der Türkei

Flüchtlingskinder in der Türkei

Foto: Uygar Onder Simsek/ dpa

Es gehört nicht viel dazu, die EU-Kommission zu kritisieren, wenn sie heute, wie erwartet, den Weg frei macht zur Visaliberalisierung für die Türkei.

Die Türken haben bis heute nicht alle 72 Kriterien erfüllt, wie es für diesen Schritt eigentlich die Voraussetzung wäre. Und natürlich ist die Frage berechtigt, ob sich die Europäer vom türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan nicht vor allem deshalb auf der Nase herumtanzen lassen, weil sie auf das Wohlwollen des Türken in der Flüchtlingskrise angewiesen sind.

All das ist nicht falsch. Doch wer so argumentiert, macht es sich zu leicht.

Zum einen fällt der entscheidende Startschuss für die Visaliberalisierung nicht heute, er ist längst gefallen, und zwar bei Abschluss des Türkei-Deals Mitte März. Den hat vor allem die deutsche Kanzlerin Angela Merkel angetrieben. Spätestens seitdem ist jedem klar, dass sich die Türken ein Wohlverhalten in der Flüchtlingskrise nicht nur mit Geld und der vagen Aussicht auf einen Beitritt ihres Landes zur EU bezahlen lassen - sondern vor allem mit Visafreiheit für ihre Staatsbürger.

Wer gegen die Visaliberalisierung für die Türken ist, hätte den Flüchtlingsdeal im März verhindern müssen. Fielen die Europäer jetzt hinter ihr Versprechen zurück, der Schaden wäre gewaltig.

Ein Nein wäre das komplett falsche Signal

Das gilt, zweiter Punkt, umso mehr, als die Visafreiheit genau die Kräfte in der Türkei stärken könnte, die ihr Land näher an Europa heranrücken wollen. Es ist ja nicht so, dass der zunehmend autokratisch handelnde Erdogan die Geschicke seines Landes allein bestimmt. Er liefert sich einen zähen Machtkampf mit Premierminister Ahmet Davutoglu, also dem Mann, der mit der EU die Details des Flüchtlingsdeals ausgehandelt hat.

Auch wenn nicht alle Punkte erfüllt sind: Unbestritten ist, dass die Türkei große Fortschritte erzielte, um die Bedingungen für die Visaliberalisierung zu erfüllen. Ein kaltes Nein würde nun ausgerechnet die Kräfte schwächen, die dies durchgesetzt haben und sich für die EU als Alternative zu Erdogan anbieten.

Zudem, dritter Punkt, geben die Europäer mit der heutigen Kommissionsempfehlung nicht alle Möglichkeiten aus der Hand, weiter Druck auf die Türkei auszuüben. Bevor die Visapflicht endgültig fällt, müssen noch die zum Teil sehr zögerlichen EU-Mitgliedsstaaten zustimmen und das Europäische Parlament. Kaum vorstellbar, dass sich die Parlamentarier beispielsweise mit den schwammigen türkischen Anti-Terror-Gesetzen zufriedengeben, die eher der Operationsfreiheit der türkischen Sicherheitskräfte zu dienen scheinen als dem Schutz türkischer Bürger.

Weniger Tote in der Ägäis

Vor allem aber sollten die Kritiker des heutigen Schritts einmal die Alternative durchdenken: Die Türkei hat in den vergangenen Wochen gezeigt, dass sie ihre Küste bewachen kann, eine Aufgabe, zu der sie sich zuvor monatelang angeblich außerstande sah. Die Zahl der Flüchtlinge, die auf griechischen Inseln wie Lesbos ankommen, ist nur noch ein Bruchteil jener vom Januar oder Februar. Würde die EU aus Sicht der Türken wortbrüchig, stiege die Zahl der Flüchtlinge wohl rasch wieder an. Da Mazedonien unter dem Applaus von Österreich und der bayerischen CSU seine Grenzen geschlossen hält, würde Griechenland der Kollaps drohen.

Vor allem aber: Wenn sich die Türkei von dem Abkommen mit der EU verabschiedet, würde die Zahl der Menschen erneut steigen, die bei der Überfahrt über die Ägäis ihr Leben riskieren - viele von ihnen würden ertrinken, wie früher. Wenn der umstrittene Deal mit der Türkei eine positive Folge hat, dann die, dass die Zahl der Toten in der Ägäis seitdem deutlich gesunken ist.

Das ist in jedem Fall eine gute Nachricht bei einem Problem, für das es kaum gute Lösungen gibt.

Vielleicht ist es die entscheidende.

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