Warum Imperien zusammenbrechen, können Historiker einigermaßen genau sagen. Meist liegt es an einem overstretch, an einer geografischen oder militärischen Überdehnung. Aber wie wäre es im Fall der Europäischen Union? Woran genau wäre dieses Imperium auf Einladung, dieser gutwillige Staatenverbund gescheitert, falls er scheitert?

Nehmen wir folgendes Zusammenbruchsszenario an: Am 23. Juni stimmen die Briten in ihrem Referendum für den Austritt aus der EU. Ihr Beispiel verleitet auch andere Nationen dazu, eine Kosten-Nutzen-Analyse über die Mitgliedschaft in der EU anzustellen. Besonders hoch kocht die Wut in Italien, weil es mit dem sommerlichen Migrationsstrom überfordert ist, der aus Nordafrika einsetzt und weil die anderen EU-Länder keine Flüchtlinge übernehmen wollen (schon heute würden laut Umfragen 48 Prozent der Italiener für einen EU-Austritt stimmen).

Da Italien aber, anders als Großbritannien, ein Euro-Land ist, würde eine Exit-Stimmung einen Untergangsoptimismus an den Finanzmärkten auslösen. Händler könnten anfangen, gegen die Euro-Mitgliedschaft Italiens zu spekulieren, mit der Folge, dass das ohnehin hoch verschuldete Land sich nicht weiter an den Märkten finanzieren könnte. Im Falle einer Italien-Pleite wären die Euro-Rettungsschirme zu klein. Das Land müsste aus der Währungsunion ausscheiden – was wiederum Ketten-Spekulationen über die nächsten Aussteiger auslösen würde.

Wie ging es los?

Wenn das so ist!, sagt sich daraufhin die neue französische Präsidentin Marine Le Pen – und kündigt lieber selber die EU-Mitgliedschaft. Kernschmelze, Ende.

Und wie ging das alles noch mal los? Warum genau kippten die Briten den ersten Dominostein?

Weil sie, kurz gesagt, nicht mehr an den Mehrwert glaubten, den ein hyperkomplexer Staatenverbund gegenüber einem selbstbewussten Nationalstaat bietet. Und weil sie das Gefühl haben, dass ihre Kritik an den Funktions- und Zieldefiziten der EU vierzig Jahre lang überhört worden ist. Tatsächlich hat zuletzt die Bundeskanzlerin die Forderungen von Premierminister David Cameron nach grundlegenden Reformen weitgehend ignoriert. Der Mindestpreis dafür, die Briten in Europa zu halten, wäre es gewesen, sie ernst zu nehmen und einen großen Reformkonvent einzuberufen, sprich: die EU-Verträge aufzuschnüren. Diesen Preis war Merkel nicht bereit zu zahlen.

Vielleicht, weil sie ahnte, dass dies das Ende der EU auf anderem Wege bedeuten würde? Weil sich all die Fäden nie wieder zusammenschnüren lassen würden? Weil die Unzufriedenheit über die EU in Polen, in den Niederlanden, in Frankreich, Ungarn, Griechenland, Dänemark viel zu groß geworden ist, um je wieder ein Integrationsgroßwerk zustanden zu bringen wie den derzeit geltenden EU-Vertrag?

Dann wäre es aber umso wichtiger, den Grund für die endemische Unzufriedenheit zu benennen. Er liegt in einer Überdehnung neuer Art. Das wohlwollende Imperium EU hat sich in eine Anspruchsüberdehnung begeben. Es hat seinen Bürgern zu viel versprochen, und genau dies lässt sich mittlerweile nicht mehr kaschieren. Vor jeder Integrationswelle, zuletzt vor dem Lissabon-Vertrag, gaben die Regierungen Versprechen aus, die bei näherer Betrachtung widersprüchlich waren: Europa werde effizienter und demokratischer werden, hieß es über den Lissabon-Vertrag. Die EU der 28 werde gegenüber globalen Konkurrenten mit einer Stimme sprechen und damit die Interessen der Europäer in der Welt besser verteidigen können.

Viel Wut in Europa

Die Wahrheit ist, dass man all dies, Demokratie, Gleichklang und Effizienz, nicht zusammen haben kann. Man kann nicht mit 28 Regierungen in Brüssel Mehrheitsbeschlüsse fassen, ohne dass die Mitbestimmungsrechte der nationalen Parlamente daheim leiden. Man kann nicht als Staatenblock Freihandelsabkommen mit Ländern abschließen, die andere Verbraucherschutzphilosophien pflegen und die gewohnten heimischen Standards unangetastet lassen. Man kann nicht transnationale Machtbündelung versprechen, ohne die Defizite in Kauf zu nehmen, die dies für den klassischen Nationalstaat bedeutet. Diese Kosten-Nutzen-Rechnung nicht klar präsentiert zu haben, hat viel Wut gestiftet in Europa. Denn was die Leute als Ergebnis sehen, sind Paradoxien.

Jedes nationale Referendum gegen eine tiefere Integration war schon vor seinem Ausgang undemokratisch – weil nur ein Volk für alle europäischen Völker abstimmte: mal die Niederländer, mal die Franzosen, mal die Iren. Ignorierten die EU-Regierungen später diese Voten, war auch dies undemokratisch, weil ja immerhin eine ganze Nation abgestimmt hatte.

Kurzum: Wer eine effiziente EU möchte, die in der Welt als geschlossener Player auftritt, der muss in einem gewissen Maße auf klassische nationalstaatliche Demokratie verzichten. Die Frage, ob die Europäer dazu bereit sind, wurde ihnen bisher nie gestellt. Sie wurde verschleiert. Dieser fehlende Grundkonsens über den großen Deal ist es, der die EU jetzt taumeln lässt.

Über die Demokratie in Europa diskutiert Jochen Bittner am heutigen Donnerstagabend mit Ulrike Guérot, Direktorin des European Democracy Lab, im Hamburg-Museum.