Die SPÖ hat sich, der Regierung und dem Land mit ihrer raschen Kür eines kompetenten Parteichefs einen großen Gefallen getan. Für Christian Kern beginnt allerdings ein Himmelfahrtskommando: Er übernimmt eine Partei, in der starke Kräfte seine Wirtschaftsphilosophie ablehnen sowie die Flüchtlingspolitik, auf die sich die Regierung noch unter Werner Faymann geeinigt hat. Während er bei Wirtschaftsfragen auf Zeit spielen kann, muss sich Kern beim Thema Flüchtlinge klar positionieren – und das sehr rasch.

Denn nichts hat Faymann mehr geschadet als sein Lavieren zwischen den Fronten in der Asylpolitik und seine verschämte Kehrtwende zur Obergrenze. Für zahlreiche Wähler und Genossen kam sie zu spät, andere sahen sie als Verrat an sozialdemokratischen Werten. Aber zumindest waren für Faymann der Deckel von 37.500 Asylanträgen und die Umsetzung der Notstandsverordnung noch Theorie. Bald dürfte die numerische Grenze allerdings erreicht werden, und dann muss Kern Farbe bekennen.

Er hat dabei keine wirkliche Wahl. Die ÖVP hat klargestellt, dass sie eine Aufweichung nicht akzeptieren wird. Und auch Partei- und Wahlvolk würden ein neuerliches Anschwellen der Flüchtlingszahlen nicht goutieren. Ein Abrücken vom beschlossenen Kurs würde dem FPÖ-Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer bei der Stichwahl in die Hände spielen und Kern vom ersten Tag an zu jenem Platz zwischen den Stühlen führen, der Faymann den Job gekostet hat.

Entwicklungen außerhalb Österreichs verstärken den Druck auf den Kanzler in spe. Die Visafreiheit für Türken ist angesichts des Repressionskurses von Präsident Tayyip Erdogan kaum noch vorstellbar. Dann aber wird auch der EU-Flüchtlingsdeal zur Makulatur. Das würde in der Realität vorerst wenig ändern: Das Abkommen wurde auch bisher nur symbolisch umgesetzt. Was die Flüchtlinge derzeit zurückhält, ist weniger die drohende Rückführung in die Türkei als Mazedoniens geschlossene Grenze.

Aber dieser Riegel, der auch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel derzeit das innenpolitische Überleben sichert, hält nur, wenn auch der weitere Weg nach Norden für Migranten verschlossen bleibt. Und da hat Österreich den Schlüssel in der Hand.

Daraus ergibt sich für die Regierung Kern ein logischer Kurs: Für die Politik nach außen bleibt Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil zuständig: Asylanträge werden nicht mehr angenommen, Grenzen kontrolliert, der Brenner für einen möglichen Ansturm aus Italien bereitgemacht. Das schließt auch Ab- und Rückweisungen nach Ungarn ein, die Innenminister Wolfgang Sobotka angekündigt hat.

Kern kann sich das leisten, weil er dank der freundlichen Flüchtlingspolitik der ÖBB auch beim linken Parteiflügel Glaubwürdigkeit genießt. Verstärken könnte er dies, indem er sich proaktiv für bessere Integrationsmaßnahmen einsetzt. Die Wiener Parteirebellin Sonja Wehsely dafür als Ministerin in die Pflicht zu nehmen wäre ein kluger Schachzug. Ein Kräftemessen mit der Gewerkschaft, die möglichst wenig Zugang zum Arbeitsmarkt für Fremde will, wird Kern dabei aber nicht erspart bleiben.

Natürlich könnte sich Kern auch auf die Seite jener Parteifreunde stellen, die offene Grenzen für Asylwerber wollen. Doch dann hätte er bald weder eine Koalition noch mehr als eine Handvoll Wähler. Das wird der gewiefte Taktiker wohl vermeiden wollen. (Eric Frey, 12.5.2016)