Kommentar

Zuckerbrot ohne Peitsche

Die EU-Kommission zeigt viel Verständnis für Defizitsünder und Schuldenstaaten. Sie scheut den Griff zur Peitsche und verteilt lieber Zuckerbrote. Was steckt dahinter, und was sind die Folgen?

René Höltschi
Drucken
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat viel Geduld mit Defizitsündern. (Bild: Markus Schreiber / AP)

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat viel Geduld mit Defizitsündern. (Bild: Markus Schreiber / AP)

Er führe eine «politische Kommission», betonen der EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker und sein Umfeld unermüdlich. Das kann im positiven Sinn eine Behörde sein, die nicht nur bürokratisch verwaltet, sondern auch politisch gestaltet. Was es im negativen Sinn heisst, hat die Kommission am Mittwoch gezeigt: mit diversen Beschlüssen zur Anwendung des EU-Stabilitätspakts, der Leitplanken für die nationale Finanzpolitik der Mitgliedstaaten enthält.

Sowohl Spanien als auch Portugal haben die EU-Vorgaben zum Defizitabbau wiederholt und im letzten Jahr massiv verfehlt. Am 18. Mai würde die EU-Kommission als Hüterin des EU-Rechts dazu Stellung nehmen, hatte der EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici noch vor zwei Wochen angekündigt. Und alle Zahlen sprechen dafür, dass beide Staaten 2015 zu wenig Anstrengungen zum Defizitabbau unternommen haben. Denn die Zielverfehlung lässt sich kaum mehr mit externen Einflüssen wie etwa einem unerwarteten Konjunktureinbruch erklären – beide Länder haben letztes Jahr ein solides Wirtschaftswachstum verzeichnet.

Die logische Folge wäre deshalb eine Verschärfung der laufenden Defizitverfahren, die in beiden Fällen zu finanziellen Sanktionen führen könnte – eine Premiere in der Geschichte des Stabilitätspakts. Die Kommission werde ein Zeichen setzen und die Nichterfüllung feststellen, auch wenn sie wohl im weiteren Verlauf für geringe, symbolische Sanktionen plädieren werde, erwarteten viele.

Doch dann machten Gerüchte über einen Rückzieher die Runde, und am Mittwoch kam es gleich doppelt anders. Die Kommission hat dem Ministerrat, dem abschliessend entscheidenden Gremium der Mitgliedstaaten, schon einmal empfohlen, beiden Staaten je ein Jahr mehr Zeit für den Defizitabbau zu geben. Ob das Verfahren verschärft werden soll, will sie hingegen erst im Juli prüfen. Das Zuckerbrot streckt sie hin, die Peitsche bleibt im Schrank.

Vorausgegangen war ein intensives Lobbying der betroffenen Staaten. Vor allem Juncker habe den Entscheid verschieben wollen, heisst es. Es sei jetzt «ökonomisch und politisch nicht der richtige Moment» dafür, erklärte Moscovici vor den Medien. Was sich bis im Juli ökonomisch ändern könnte, blieb aber sein Geheimnis. Was sich politisch ändert, ist klar: Ende Juni wird in Spanien erneut gewählt. Wäre Brüssel jetzt vorangegangen, hätten die vom amtierenden Ministerpräsidenten Mariano Rajoy zu verantwortende Zielverfehlung und die Sanktionsdrohung zum Wahlkampfthema werden können. Rajoy ist ein Parteifreund von Juncker.

Im Getöse um Spanien und Portugal ist ein zweiter Beschluss fast untergegangen, obwohl er ähnlich unverständlich ist. Die Kommission hat pflichtgemäss die Staatsverschuldung von Belgien, Italien und Finnland geprüft, aber festgestellt, dass alle drei Staaten die Vorgaben des Stabilitätspakts erfüllten. Während dies bei Finnland nachvollziehbar ist, ist es bei Belgien und Italien nur mit vielen Verrenkungen zu erklären. Beide haben eine Bruttoschuld von über 100 Prozent der Wirtschaftsleistung, beide kommen mit dem Abbau nicht voran. Mit einem dritten Schritt schliesslich stellt die Kommission Italien als Belohnung für die Umsetzung von Strukturreformen einen massiven «Rabatt» beim diesjährigen Defizitabbau in Aussicht. Auch Rom erhält somit ein Zuckerbrot, während Brüssel die Schulden-Peitsche nur kurz gezeigt und gleich wieder weggesperrt hat.

Der Pakt ist im Verlauf mehrerer Reformen derart kompliziert geworden, dass sich für all dies (und fürs Gegenteil) rechtliche Grundlagen finden lassen – ebenso wie letztes Jahr für die grosszügige Fristverlängerung für Frankreich. Doch nachvollziehbar sind die Beschlüsse immer weniger. Beim Schuldenkriterium kommt hinzu, dass die EU die Vorgaben für den Schuldenabbau unter dem Schock der Schuldenkrise derart verschärft hat, dass sie ein hochverschuldetes Land nach Ansicht vieler Ökonomen unmöglich erfüllen kann. Doch wenn das stimmt, müssten sich die Kommission und die Mitgliedstaaten an eine Korrektur dieser Regel machen, statt einfach auf ihre Anwendung zu verzichten. Ein Regelwerk, das den Eindruck intransparenter Beliebigkeit erweckt, hat seinen Zweck verfehlt. Und eine «politische» Kommission, die den Gebrauch der Peitsche scheut, hat seine Durchsetzung de facto längst aufgegeben.