Frankreich verweigert Reformen und setzt auf die Revolution

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Hollande hat es sich mit allen verscherzt. Aber die Wurzel der Malaise ist nicht ein schwacher Präsident, sondern die Unfähigkeit zu sozialem Dialog.

Willkommen, ihr Freunde des Fußballs! In eineinhalb Wochen beginnt die EM in Frankreich. Auf dem Programm steht diesmal weit mehr als sportliche Spannung: Ein Streik der Bahn dürfte zu einem Verkehrschaos führen. Die Autofahrer erwarten lange Schlangen vor den letzten noch offenen Tankstellen. Stadtflaneure stoßen auf Großdemonstrationen, wohl wie üblich mit brutaler Gewalt am Rande. Im Stadion kann jederzeit das Licht ausgehen, da rabiate Gewerkschaften im Endkampf gegen das neue Arbeitsgesetz auch Atomkraftwerke besetzt halten. Ein Volk in Geiselhaft, eine Nation im Ausnahmezustand – weit über die Terrorgefahr hinaus.

François Hollande kann einem leidtun. Der unbeliebteste Präsident der jüngeren Geschichte hat mit seiner Arbeitsmarktreform alle gegen sich aufgebracht: Die Medien halten ihn für schwach und wankelmütig. Der linke Flügel seiner Sozialisten denunziert ihn als Verräter, der sich auf die Seite der „Bosse“ geschlagen hat. Jetzt springen ihm auch noch diese Bosse ab. Für den Chef des Arbeitgeberverbands wird das Gesetz „nichts nutzen“, es wurde im Vorfeld so weich geklopft, dass es keine Jobs mehr schaffen könne. Dafür lohne kein erbitterter Machtkampf, der das Land ins Chaos stürze.

Dabei hatte Hollande recht: Nur wenn man den rigiden Kündigungsschutz lockert, die fatale 35-Stunden-Woche aufweicht und Lohnvereinbarungen auf Firmenebene zulässt, können vor allem kleinere Unternehmen das Risiko eingehen, trotz schwacher Konjunktur mehr Mitarbeiter einzustellen. Und nur so kann Frankreich ein wenig von der verlorenen Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen.

Aber diese Einsicht kam zu spät. Angetreten war der Herr im Élysée-Palast als betont linker „Feind der Finanzmärkte“. Dann versprach er von Monat zu Monat weniger Arbeitslose, ohne zu erklären, wie er das schaffen wolle. Die einzige umgesetzte Reform war eine Liberalisierung für Fernbusse – reichlich wenig. Erst ein Jahr vor den Wahlen will der selbst ernannte Versöhner den großen Wurf landen, plötzlich als harter Macher, der Gesetze per Dekret durchboxt. Das entfachte die Kampfeslust aufs Neue. Schließlich schätzen Hollande und Premier Valls auch noch die Gemütslage der Nation falsch ein: Die Franzosen stöhnen unter den Blockaden der Gewerkschaft, aber sie sind gegen das Gesetz – und wütend auf ihre Führung.

Doch der Eindruck täuscht: Es liegt nicht am schwachen Staatsoberhaupt. Auch dessen konservative Vorgänger schafften keine Reformen. Seit der Krise zeigt es sich ganz klar: Kein Land in Europa ist so reformresistent wie Frankreich. Spanier und Italiener reiben sich die Augen angesichts der rabiaten Proteste gegen ein Gesetz, das viel harmloser ist als das, was bei ihnen erfolgreich über die Bühne gegangen ist. Sicher: So mancher Sektor der französischen Wirtschaft ist immer noch stark, der erreichte Lebensstandard hoch. Der Niedergang kommt schleichend, aber immer näher.

Die Wurzel allen Übels ist die lustvoll kultivierte Unfähigkeit zum sozialen Dialog. Für gallische Arbeitnehmer sind Unternehmer immer noch Feinde im Klassenkampf, die alles daransetzen, sie auszubeuten. Dagegen muss jedes Mittel recht sein: Der Gewerkschaftschef wirft eigenhändig Reifen in ein Feuer, das den Zugang zu einer Raffinerie versperrt. Er verhindert mit seinen Truppen die Auslieferung von Zeitungen, die sich weigern, seine Flugschriften abzudrucken. Stalin lässt grüßen. Und die Arbeitgeber grüßen unfreundlich zurück, indem sie Gewerkschafter als Gauner und Terroristen beschimpfen. Da hilft keine Reform, nur noch Revolution.

Doch seltsam: Am Ende wünschen sich die Franzosen dann doch einen starken Mann an der Spitze, der den Volkswillen ruhmreich umsetzt. Nach der nächsten Wahl könnte es eine starke Frau sein, die genau das Falsche verspricht: Marine Le Pen will Frankreich von den Zumutungen der Globalisierung abschotten und der EU den Rücken kehren. Was ins Bild passt. Denn in Brüssel regiert das Ringen um Konsens, im gewagten Vertrauen darauf, dass im Grunde alle die gleichen Ziele verfolgen. Konsens und Vertrauen: Beides ist den Franzosen leider fremd geworden.

E-Mails an: karl.gaulhofer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2016)

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