Kommentar

Cloaca maxima

Italiens Wutbürger haben gezeigt, dass sie vereint vielleicht die Mehrheit haben im Land. Die vom Regierungschef Renzi eingeleiteten Reformen sind infrage gestellt.

Andres Wysling
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Nach dem Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung an den Lokalwahlen in Italien muss Ministerpräsident Matteo Renzi befürchten, «dass die Allianz der Nein-Sager die von ihm eingeleiteten Reformen abwürgt».(Bild: Angelo Carconi / Keystone)

Nach dem Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung an den Lokalwahlen in Italien muss Ministerpräsident Matteo Renzi befürchten, «dass die Allianz der Nein-Sager die von ihm eingeleiteten Reformen abwürgt».(Bild: Angelo Carconi / Keystone)

Die Römer haben genug: genug vom Dreck auf den Strassen, genug von der Stadtverwaltung, die den Dreck nicht zusammenkehrt, genug von der Mafia und genug von den Politikern, die mit der Mafia paktieren oder unfähig sind, sie endlich auszumerzen. Ihren Unmut über die Zustände verwandeln die Römer in Übermut: Sie wählen als Sindaca eine junge Frau ohne nennenswerte politische Erfahrung, die Vertreterin einer Protestbewegung ohne fassliches politisches Programm. Sie wagen ein Experiment, sie setzen auf neue, unverbrauchte Kräfte. Sie sind bereit, die tonangebenden Parteien mitsamt ihrem Personal in die Cloaca maxima zu entsorgen, in den stinkenden Abwasserkanal aus der Gründungszeit Roms.

Die vereinigten Nein-Sager

Doch erscheint die Wahl in Rom mehr als Akt der Verzweiflung denn als Akt der politischen Hygiene. Sie hat Auswirkungen auf die ganze italienische Politik. Eine Analyse der Wahlergebnisse in Rom und weiteren Städten legt den Schluss nahe, dass die Fünf-Sterne-Protestpartei des Satirikers Beppe Grillo ihren Wahlerfolg insbesondere starkem Zulauf von Protestwählern aus dem rechten Lager verdankt. Offenbar haben sich viele Anhänger des abgehalfterten früheren Ministerpräsidenten Berlusconi und der schwach abschneidenden Lega Nord in der zweiten Wahlrunde ins Lager der «Grillini» geschlagen, wenn es galt, einen linken Kandidaten zu verhindern. Umgekehrt blieben Stammwähler der Linken den Urnen fern, weil ihnen die Politik der Linksregierung unter Matteo Renzi nicht links genug ist.

Sieger der Lokalwahlen in Italien ist Beppe Grillo. Er, der im Wahlkampf kaum sichtbar war, ist zum Anführer der vereinigten Nein-Sager aufgestiegen. Etwas anderes als Nein hat er kaum je gesagt, seit er auf der politischen Bühne in Erscheinung getreten ist. Er hat zwar stets Reformen gefordert, aber nie hat er zur Ausarbeitung und Umsetzung von solchen beigetragen. Stets hat er verhindert, dass die Parlamentarier seiner Partei bei der Gesetzgebung eine konstruktive Rolle spielten. Jetzt sagt Grillo: «Das ist erst der Anfang.» Der Anfang wovon? Das weiss niemand, wahrscheinlich auch er selber nicht. Er verspricht nur, «alles» werde sich ändern. Das ist wenig konkret. In Rom und weiteren Städten müssen er und seine Anhänger zuerst noch beweisen, dass sie mehr können, als nur Nein zu sagen.

Sieger der Lokalwahlen in Italien ist Beppe Grillo. Er, der im Wahlkampf kaum sichtbar war, ist zum Anführer der vereinigten Neinsager aufgestiegen. (Bild: Massimo Barbanera / Reuters)

Sieger der Lokalwahlen in Italien ist Beppe Grillo. Er, der im Wahlkampf kaum sichtbar war, ist zum Anführer der vereinigten Neinsager aufgestiegen. (Bild: Massimo Barbanera / Reuters)

Lackmustest Verfassungsänderung

Für den italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi ist der Ausgang der Lokalwahlen ein herber Rückschlag. Nicht nur die dröhnende Niederlage seines Kandidaten in Rom muss er verkraften, ein starkes Warnsignal setzt zudem die Abwahl des Bürgermeisters von Turin. Auch dort hat sich eine «Grillina» durchgesetzt, und das, obwohl Turin im Ansehen einer gut verwalteten Stadt steht. Da zeigte sich, welche Wucht die Front der vereinigten Wutbürger entfalten kann. Immerhin hat sich in Mailand der Expo-Manager Beppe Sala durchgesetzt; in der Wirtschaftsmetropole standen die Populisten auf verlorenem Posten.

Renzi muss jetzt befürchten, dass die Allianz der Nein-Sager die von ihm eingeleiteten Reformen abwürgt. Der grosse Test folgt schon bald. Im Oktober steht die Volksabstimmung über die Verfassungsänderung bevor, mit welcher der Senat verkleinert und entmachtet werden soll. Diese institutionelle Änderung wird allgemein als Schlüssel für die «Deblockierung» Italiens gesehen. Nennenswerte Reformen waren bisher kaum möglich, weil Gesetzesentwürfe im parlamentarischen Verfahren immer wieder zwischen den beiden gleichberechtigten Kammern bis zur Unkenntlichkeit zerpflückt, zerzaust und schliesslich versenkt wurden. Solcher Leerlauf, an dessen Ende dann regelmässig ein Nullresultat steht, soll mit der Ausschaltung des Senats verhindert werden. Nötig wäre es. Renzi hat seine eigene politische Zukunft an den Ausgang der Abstimmung im Oktober geknüpft. Wenn diese Reform nicht durchkomme, gebe es Neuwahlen, hat er schon früher angekündigt.

Die Illusion von Kontrolle

Es ist nicht lange her, dass Renzi antrat, das alte politische System Italiens zu «verschrotten». Das ist ihm ziemlich gut gelungen. Zuerst hat er die alte Garde seiner eigenen Partei ausrangiert, dann liess er Berlusconi entgleisen, womit die Rechte führungslos wurde. Renzi konnte sich eine Zeitlang der Illusion hingeben, er könne fortan das politische Spiel in Italien mehr oder weniger allein bestimmen. Doch er schuf sich mit seinem Vorgehen sehr viele Feinde, links und rechts. Und er unterschätzte den Sog der Cloaca maxima, die jetzt so angeschwollen ist, dass sie seine eigenen Leute mitreisst und für ihn selbst bedrohlich wird.