Kommentar

Die Briten wissen nicht, was sie wollen

Europäische Politiker drängen auf einen raschen Austritt Grossbritanniens aus der EU. Doch das Brexit-Lager auf der Insel hat selbst noch keine Ahnung, was es will und wer es führen soll.

Peter Rásonyi
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(Bild: Keystone )

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Unordnung herrscht nach dem Brexit, wohin man blickt. Der überraschende britische Volksentscheid, das Königreich aus der EU zu führen, hat auf dem Kontinent wie auf der Insel zu einem öffentlichen Katzenkonzert von Jubel und Jammern geführt. In den Machtzentren der Politik herrscht ein Durcheinander von Stimmen und Vorstellungen darüber, wie es nun weitergehen soll. Das ist verständlich; der Brexit ist ein Schock, mit dessen Absorption weder die EU noch Grossbritannien Erfahrung hat.

Premierminister Cameron hat am Freitag seinen Rücktritt angekündigt, aber erst für den Oktober – wenn die Konservativen üblicherweise ihren Parteitag abhalten, an dem sie ihren Führer und damit, wegen der derzeitigen Parlamentsmehrheit, gleichzeitig den Premierminister wählen. Das hat auf dem Kontinent Ärger ausgelöst. Schon wieder soll sich ganz Europa nach den internen Bedürfnissen von Camerons Tory Party richten, hiess es. Das empfinden kontinentaleuropäische Politiker verständlicherweise als Zumutung, galt doch schon das Abhalten des verhängnisvollen Referendums primär als Mittel Camerons, um seine aufmüpfige Partei zu disziplinieren – in der selbstgefälligen Hoffnung, dass es dann schon nicht zum Brexit kommen werde. Sowohl Kommissionspräsident Juncker wie auch die Aussenminister der sechs EU-Gründungsländer haben in ersten Stellungnahmen zu einer raschen Einreichung des britischen Austrittsgesuchs gefordert. Ab diesem Datum begänne die Uhr für die notwendigen, äusserst komplexen Austrittsverhandlungen zu ticken, deren Zeitraum vertraglich auf zwei Jahre festgelegt ist, der im allseitigen Einvernehmen aber verlängert werden kann.

Die Ungeduld der europäischen Politiker ist verständlich. Von britischen Extrawürsten haben sie nun wirklich die Nase voll. Allerdings sollten sie bedenken, dass es für Grossbritannien selbst noch zu früh ist, um überhaupt zu wissen, was das Land im neuen Zeitalter Post-Brexit will. Eine überstürzte Wahl des neuen Premierministers durch die Konservative Partei könnte Weichen stellen, über deren Auswirkungen das Land noch gar keine Vorstellung hat. Alles deutet derzeit auf den ehemaligen Londoner Bürgermeister Boris Johnson als Favorit für die Nachfolge Camerons hin. Das allerdings nicht wegen überzeugender Lebensleistungen oder klarer Entwürfe für die Zukunft des Landes, sondern wegen seines einzigartigen Talents als Polit-Popstar. Was wäre von einer Regierung Johnson zu erwarten? Auch nach einen laut polternden Abstimmungskampf hat niemand eine Ahnung. Johnson gefiel sich in Trumpscher Manier darin, Absurditäten, Unwahrheiten und Widersprüche über Grossbritannien und die EU von sich zu geben, die dank seiner Aura, Eloquenz und dem Kultstatus als Medienstar sofort den Weg in die Schlagzeilen fanden. Daraus Schlüsse auf die Absichten Johnsons zu ziehen, ist unmöglich – einmal abgesehen von dessen unstillbarer Ambition, den etwas jüngeren Mitschüler am Eliteinternat Eton, David Cameron, zu besiegen und zu verdrängen.

Im ganzen Brexit-Lager kommen nach dem unerwarteten Sieg die programmatischen Widersprüche und Leerstellen ans Tageslicht, die schon dessen Kampagne geprägt hatten. Diese hatte nicht ein Führung und ein Machtzentrum, sondern war eine lose Koalition von vielen Bewegungen, die bloss der Wunsch einigte, die verhasste EU-Mitgliedschaft loszuwerden. Johnson war nicht, wie oft behauptet wird, der Kopf und Führer der Bewegung, sondern bloss deren medienwirksamstes Zugpferd, das relativ spät auf den Brexit als Mittel zum Einzug in David Camerons Regierungswohnung an der Downing Street erschien. Viele konservative Abgeordnete aus ländlichen Wahlbezirken, die überwiegend für den Brexit stimmten, haben für den flippigen Londoner Popstar nur Verachtung übrig. Der intellektuelle Freigeist und EU-Abgeordnete Daniel Hannan, ein langjähriger Kämpfer für den Brexit, hat mit den traditionellen Labour-Wählern im deindustrialisierten Norden Englands, die mit dem Brexit-Votum vor allem die unliebsame Niedriglohnkonkurrenz aus dem Ausland loswerden wollen, nichts am Hut. Und dann ist da noch Nigel Farage von der rechtsnationalen Ukip, der sich zwar in jüngster Zeit an Johnson annäherte, dessen Partei aber die grösste Rivalin der Tories ist.

Zunächst einmal müsste sich das heterogene Brexit-Lager inhaltlich und personell formieren, um von Cameron die Regierungsführung und die schwierigen Verhandlungen mit der EU übernehmen zu können. Davon ist noch nichts zu sehen. Der sonst so selbstbewusst polternde Johnson lavierte am Freitag kleinlaut und meinte, mit dem angeblich so sehnlichst erwarteten EU-Austritt habe es gar keine Eile; der Antrag in Brüssel dürfe ruhig noch auf sich warten lassen. Daniel Hannan erklärte am Wochenende plötzlich, eine geringere Einwanderung sei nach dem Brexit gar nicht nötig – als ob die hohe Zuwanderung nicht das zentrale Motiv vieler Stimmbürger für den Austritt gewesen wäre. Auch wirtschaftlich gibt es kein Konzept. Die Brexit-Befürworter behaupteten lange, Grossbritannien werden nach dem Brexit schon irgendwie mit Europa weiterwirtschaften können. Doch wie das gehen soll, ohne auch die verhassten EU-Regeln und die Arbeitnehmer-Mobilität übernehmen zu müssen, blieb bis zum Schluss schleierhaft. Es gibt kein Konzept für den Brexit.

Auch in Schottland herrscht Chaos. Die schottische Chefministerin Sturgeon bekräftigte am Samstag ihre Absicht, wegen des EU-Austritts, den die Schotten mit grosser Mehrheit ablehnten, eine neue Abstimmung über die Sezession der Nation vom Vereinigten Königreich anzustreben. Sie beherrschte damit die Schlagzeilen. Doch wie das gehen soll, ist völlig unklar. Rechtlich müsste das Parlament von Westminster einem neuen Unabhängigkeitsreferendum in Schottland zustimmen. Wie eine künftige rechtskonservative Regierung, die ihre Kampagne gegen die EU als Höhepunkt eine nostalgisch-patriotischen Überhöhung der historischen Einzigartigkeit des Königreichs geführt hatte, zur möglichen Selbstauflösung des Landes ihre Zustimmung geben könnte, ist schwer vorstellbar.

Das Verhandeln mit einem chaotischen Brexit-Lager unter Führung des Chefpopulisten Johnson würde schwierig. Da wäre es nicht falsch, dem Land ein wenig Zeit einzuräumen, um zuerst einmal mit sich selbst ein bisschen ins Reine zu kommen. Bis im Oktober könnte sich in der Tory Party vielleicht sogar noch eine solidere Alternative zu Johnson aufbauen, etwa die zähe, nüchterne, sich während der Brexit-Kampagne taktisch still verhaltende Innenministerin May.