Der größte anzunehmende Unfall – Seite 1

Eine Bombe schlägt ein und hinterlässt einen tiefen Krater, der das Vorher und das Nachher strikt voneinander trennt. Auf einen Schlag ist die Welt eine andere. Staub wirbelt auf, wir können nichts mehr sehen, es entsteht für einen kurzen Moment eine Ungewissheit, die unsere Deutungen auf den Kopf stellt und unsere Ordnungen außer Kraft setzt. In der Geschichtsschreibung werden diese Krater als historische Zäsuren analysiert, die eine Epoche beenden und eine neue Epoche beginnen lassen. Im Privaten kennt man solche Ereignisse auch: als Unfälle, plötzliche Todesfälle, Krankheitsdiagnosen, sogenannte Schicksalsschläge, die sich tief in das eigene Leben eingraben und alles verändern.

Auch der Brexit scheint ein katastrophales Ereignis zu sein, ein Unfall, ein epochaler Unfall vielleicht welthistorischen Ausmaßes. Wie konnte das nur passieren? Sind wir wie die von Hermann Broch und Christopher Clark beschriebenen Schlafwandler, die "mit einem sehr begrenzten Bewusstsein" in den Ersten Weltkrieg stolperten, den doch auch wahrlich ernsthaft keiner gewollt haben kann?

Vorhin habe ich mit einem Freund telefoniert, einem in Rumänien aufgewachsenen Juden mit deutscher Staatsangehörigkeit, der seit 25 Jahren in Großbritannien lebt, arm und prekär, aber seine Freiheit genießend. Dieser mit allen Wassern der Transnationalität gewaschene Mann sagt mir: Auch wenn manche der 17 Millionen Menschen, die diesen Unfall selbst erzeugt haben – scheinbar mutwillig, wie der Rad fahrende Typ in der Karikatur, der sich einen Stock in die Speichen schiebt, um hinzufallen und "Fucking European Union" rufen zu können –, also auch wenn ein Teil der Brexit-Befürworter jetzt wegen des wirtschaftlichen Schadens Bedauern empfindet und deshalb in einem neuerlichen Referendum vielleicht anders abstimmen würde, sei der Kern dessen, worüber abgestimmt wurde, doch sehr ernst und wörtlich zu nehmen. Im Kern ging es darum, Leuten wie meinem Freund die Privilegien einer transnationalen Existenz wieder wegzunehmen und sie in das nationalstaatliche Paradigma zurück zu zwingen. Es ging darum, dass die Rechte von Unionsbürgern nicht britischer Staatsangehörigkeit auf den britischen Inseln keine Geltung mehr haben sollen. Unionsbürger sollen sich nicht mehr aus eigenem Recht auf den Inseln niederlassen und Arbeit suchen, sie sollen den britischen Souverän um Erlaubnis fragen. Sie sollen bei den britischen Behörden darum "betteln", wie sich mein Freund ausgedrückt hat, der eben dies nun auf sich zukommen sieht. Es wird ihm nach dem Ausstieg Großbritanniens aus der EU gar nichts anderes übrig bleiben, als in England zunächst einen Aufenthaltstitel und später die britische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Auf diese Weise wird er in eine Loyalität zum britischen Staat gezwungen, die er als EU-Bürger nicht nötig hatte.

Marion Detjen ist Historikerin am Zentrum für Zeithistorische Forschung. Ihre Schwerpunkte liegen auf der deutsch-deutschen Migrationsgeschichte, Gender und den Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8". © privat

Mein Freund und ich mussten zugeben, dass darin eine gewisse Rationalität liegt – die Rationalität der Nationalisten, mit ihrem stumpfen, misstönenden Dreiklang von Volk und Staat und Grenzen. Um diese Rationalität zu erkennen, braucht man kein Rassist zu sein, man muss nicht einmal pauschal etwas gegen Immigration haben. Immigration ja, heißt es, aber nur, wenn das britische Volk es will und die Migranten in Abhängigkeit halten kann, wie in den guten alten Zeiten. Wenn man Volkssouveränität so versteht, dann ist der Ausstieg aus der EU konsequent und dann müssen für diesen politischen Wert auch wirtschaftliche Nachteile in Kauf genommen werden.

Das Referendum war in mehrerer Hinsicht ein katastrophales Ereignis, das nicht hätte passieren dürfen, nicht nur im Hinblick auf die Zukunft der europäischen Integration und die Zukunft des Vereinigten Königreichs, die beide nun auf dem Spiel stehen. Auch für den Umgang Europas mit den Flüchtlingen, die weiterhin verzweifelt zu kommen versuchen, ist das Referendum eine Katastrophe, weil die europäischen Nationalstaaten mehr denn je ihre kurzsichtigen Egoismen gegen eine gemeinschaftliche Haltung auffahren und jeden Ansatz einer humanitären Lösung in ihrer Prioritätenliste ganz nach unten rutschen lassen werden.

Vor allem aber ist es eine Katastrophe für unser Vertrauen in die Demokratie und in die Vernunftbegabung des Menschen. Man hört jetzt oft, dass die Welt verrückt geworden sei. Die von der Globalisierung Abgehängten in den westlichen Ländern dächten, sie hätten nichts mehr zu verlieren, und würfen sich deshalb ohne Sinn und Verstand den faschistischen, skrupellosen Demagogen in die Arme. Dem Volk sei nicht mehr zu trauen, es falle auf die dümmsten Lügen herein, google erst nach der Abstimmung, worüber es abgestimmt habe, und man dürfe es auf gar keinen Fall jemals wieder direkt befragen, außer vielleicht dazu, ob in einer Kommune lieber ein Schwimmbad oder lieber eine Umgehungsstraße gebaut werden solle.

Kurzschlüsse werden gewinnen

Ich gebe zu, dass ich am Freitag, als die Bombe gerade eingeschlagen war, auch einen Moment lang so dachte: 52 Prozent! Die absolute Mehrheit! Für ein völlig rückwärts gewandtes, nur zur Diskriminierung von Ausländern nützliches, nicht einmal mit eigenen Interessen zu rechtfertigendes Programm! Das hätte ich mir nicht träumen lassen, das ging an die Grundfesten meiner demokratischen Überzeugungen! Und sofort kam mir der NS-Vergleich: Die NSDAP hatte in den März-Wahlen 1933, schon mitten in der Diktatur, "nur" 44 Prozent, und im November 1932 sogar "nur" 33 Prozent. Die Mehrheit des Volkes hatte die Nazis nicht gewollt. Wird diese Mehrheit, auf der mein ganzes Weltvertrauen gründet, jetzt zur Minderheit?

Solche Gedanken sind kurzschlüssig, und doch werden sie nun die Oberhand gewinnen. Das Referendum wird, ebenso wie die AfD-Forderungen nach Direktwahlen, auf breiter Front als Argument benutzt werden, um demokratische Graswurzelinitiativen zu diskreditieren. Alles, was von unten kommt, wird uns als Mob erscheinen. Die Eliten werden sich mehr denn je abschotten und zu schützen versuchen und Defensivpositionen einnehmen, anstatt konsequent die Fragen zu stellen und die Konfrontationen zu suchen, die es jetzt braucht – auch und gerade die Fragen an sich selbst, auch und gerade die Konfrontationen mit den Kräften und Mächten, von denen jede einzelne von uns abhängt.

Während die Kluft zwischen arm und reich immer abgründiger wird, während die Ausbeutung und Zerstörung unserer Erde immer bedrohlichere Ausmaße annimmt, während diejenigen, die sich verantwortungslos die Ressourcen unter den Nagel gerissen haben – sei es in den Bürokratien, sei es in der Wirtschaft – nur noch sich selbst bedienen und sich selbst in Sicherheit bringen wollen, werden die "einfachen" Bürgerinnen und Bürger, die die Missstände vor Ort erkennen und basisdemokratisch bekämpfen wollen, dem Misstrauen und der Marginalisierung preisgegeben.

Wir müssen die Konflikte jetzt austragen

Die Briten wollen in ihrer Mehrheit keine Unionsbürgerschaft. Und wir müssen wohl nüchtern akzeptieren, dass ein guter Teil der Bevölkerungen des restlichen Europas ebenfalls in den nationalstaatlichen Souveränitätsfantasien des 19. Jahrhunderts gefangen bleiben wird, solange die transnationalen und supranationalen Lösungen ihnen weder Freiheit noch Gleichheit noch Solidarität glaubwürdig versprechen können. Es hilft nicht weiter, den Nationalisten, so wie wir es bisher getan haben, von oben herab zu predigen, dass der Nationalismus auf die Probleme des 21. Jahrhunderts keine Antworten hat. Es bringt auch nichts, immer nur darauf zu pochen, dass uns die europäische Integration jahrzehntelangen Frieden und relativen Wohlstand beschert hat. Und es wird uns nur immer tiefer in die Krise führen, wenn wir mit unseren Vermeidungsstrategien fortfahren und uns in unsere Nischen und Privilegien flüchten, anstatt endlich Verantwortung für das Ganze zu übernehmen und den Konflikten ins Auge zu sehen.

Auch wenn es paradox erscheint: Die Lehre aus dem Brexit ist nicht, dass wir weniger Demokratie, sondern dass wir mehr davon brauchen. Auch und gerade mehr direkte Demokratie: Basisdemokratie, die die Eliten auf Trab hält und Auseinandersetzungen einfordert. Denn es sind die Eliten, die profitieren und ihre Verantwortungen nicht wahrnehmen, die die wachsende Ungleichheit und Hoffnungslosigkeit erzeugen, die Probleme verschleppen und letztlich diese fatale Abstimmung herbeigeführt haben. Nur indem die Menschen auch jenseits der Wahlen politisch ermächtigt werden und auf allen Ebenen Einfluss nehmen, allen voran auch auf der europäischen Ebene, werden wir uns vom nationalistischen Paradigma erlösen können und dem sogenannten Volk die Vorzüge der Unionsbürgerschaft und der transnationalen Lebensweise erfahrbar machen.

Drei Tage sind jetzt seit dem katastrophalen Ereignis, dem großen Unfall vergangen. Der aufgewirbelte Staub legt sich, in den von der Bombe gerissenen Krater rieselt bereits wieder Sand. Die Deutungsarbeit, die das unerhörte Ereignis einzuebnen und Kontinuität wiederherzustellen versucht, ist in vollem Gang. Und wir alle beteiligen uns daran. Unfälle gehen zwar oft übel aus und es ist wirklich besser, sie zu vermeiden. Aber wenn man sie überlebt, können sie auch hilfreich sein, weil sie uns aus unserer Bequemlichkeit und aus unseren Konventionen stoßen und ganz neu nachdenken lassen. Wie wir diese Chance nutzen und in welche Richtung die historische Entwicklung, ausgehend von der Zäsur, weitergeht, liegt ganz an uns.

Jean-Claude Juncker - "Man darf die Nationen nicht den Nationalisten überlassen" Nach dem Brexit-Referendum hat EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker von London den raschen Start des Austrittsprozesses gefordert. Vor dem EU-Parlament in Brüssel griff er auch Brexit-Befürworter Nigel Farage an.