Was bewegen die Proteste in Russland?

In Russland gingen vor einer Woche erstmals seit Jahren in zahlreichen Städten tausende, überwiegend junge Menschen gegen Korruption auf die Straßen. Die Polizei nahm viele Demonstranten fest. Kommentatoren argumentieren, dass in diesen Protesten auch eine Botschaft an Westeuropa steckt.

Alle Zitate öffnen/schließen
Expresso (PT) /

Russland ist nicht nur Putin

Angesichts der erfolgreichen Proteste muss Westeuropa sein Russland-Bild auf den Prüfstand stellen, mahnt Expresso:

„In Westeuropa tendieren wir dazu, Russland - das größte Land der Welt – auf den Kreml und den gegenwärtigen Inhaber zu reduzieren. Die Proteste, die am vergangenen Sonntag in zahlreichen russischen Städten stattfanden, sind eine gute Gelegenheit, diese vereinfachende Sicht zu korrigieren. ... Die politischen Folgen dieser Ereignisse sind bedeutend: Zunächst hat es [Regime-Kritiker] Nawalny geschafft, den Präsidentschaftswahlkampf zu antizipieren und den Kreml dazu gezwungen, seine politische Botschaft anzupassen. Ferner haben die Proteste die Legitimität des Putin-Regimes in Frage gestellt. Dessen Popularität, die durch die Annexion der Krim 2014 und die militärische Machtprojektion im Nahen Osten ab 2015 entstand, schwindet innerhalb der russischen Gesellschaft. Das Land scheint zur Normalität zurückfinden.“

Ilta-Sanomat (FI) /

Niemand regiert ewig

Die Proteste am Wochenende haben Russlands Präsidenten Putin daran erinnert, dass auch er angreifbar ist, urteilt Ilta-Sanomat:

„Jahrelang schien der russische Präsident Wladimir Putin wie der finstere Märchenfürst, dem jede Intrige gelingt. ... Am Wochenende bekam das Image einen Riss. ... Um gegen die Unruhen gewappnet zu sein, wurde jetzt eine starke Nationalgarde geschaffen. Putin hat aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion gelernt. Der letzte Sowjetführer, Michail Gorbatschow, scheute den Einsatz von Gewalt. Putin hingegen hat keine Hemmungen. ... In Russland wimmelt es von national gesonnenen, mit Waffen ausgerüsteten Männern, die in Putins Kriegen abgehärtet wurden. Ein Zusammenbruch des Systems könnte ein blutiges Chaos zur Folge haben. Das macht viele zurückhaltend. Aber Putin wurde nun daran erinnert, dass niemand ewig an der Macht ist.“

Neatkarīgā (LV) /

Tauwetter in Russland und Belarus

Auch in der belarussischen Hauptstadt Minsk haben am Wochenende Menschen protestiert. Die Polizei löste die Demonstrationen gewaltsam auf. Regimewechsel in Russland und Belarus sind überfällig, kommentiert Neatkarīgā:

„Die Polizei in Belarus und Russland handelt wie in einem totalitären Land. Sie verteidigt nicht das Volk vor Kriminellen, sondern umgekehrt. Eine solche Konfiguration kann nicht von Dauer sein und wird unvermeidlich zur Konfrontation führen. ... Auch 1991 ist das Regime zusammengebrochen. Die damals Mächtigen hatten verstanden, dass sie sich nicht einfach gegen ihr Volk stellen konnten. Ein ähnlicher Moment kann schnell in Belarus und Russland kommen. Aus lettischer Sicht müssen wir das politische Tauwetter in unseren Nachbarländern mit Vorsicht genießen. ... Wir alle wünschen uns, dass sich die Beziehungen zwischen West und Ost verbessern. Doch das ist unmöglich, solange die autoritären Führer in Russland und Belarus an der Macht sind. ... Deshalb wäre die Ablösung der regierenden Regimes auch für uns von Vorteil.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Die Jungen kennen Repression noch nicht

Überrascht, dass viele junge Menschen demonstrierten, zeigt sich die Süddeutsche Zeitung:

„Seit den 1990er-Jahren messen die Soziologen des unabhängigen Lewada-Instituts das Protestpotenzial in der russischen Gesellschaft. Nie waren die Werte so lange so niedrig wie seit der Krim-Annexion. ... Jetzt stellt sich heraus, dass die Statistiken einen blinden Fleck haben: Es wurden nur Volljährige befragt. Überraschend viele Teilnehmer der Proteste am Sonntag waren aber Schüler und Studenten. Eltern mussten 15-Jährige vom Revier abholen. Die Generation, die seit ihrer Geburt nur ein Russland unter Putin kennt, sieht es trotzdem nicht als naturgegeben an, dass eine korrupte Elite ihnen die Zukunft stiehlt. Weil sie bei der letzten Protestwelle noch Kinder waren, kennen sie Repressionen noch nicht aus eigener Erfahrung. Möglich, dass sich das jetzt ändert.“

Postimees (EE) /

Neue Demonstranten fordern Kreml heraus

Die Proteste in der russischen Provinz könnten für die russische Führung gefährlicher sein als Moskauer Demonstrationen, führt Postimees aus:

„Im Vergleich zur Einwohnerzahl Russlands sind 150.000 Menschen nicht viel. Sie zeigen aber, dass soziale Spannungen auch in Regionen aufflammen können, die dem Kreml bislang loyal gegenüberstanden. In einigermaßen unabhängigen regionalen Nachrichtenportalen liest man, dass die drei Jahre währende wirtschaftliche Stagnation und die damit einhergehende Arbeitslosigkeit sowie Preissteigerungen immer mehr zu einem Gefühl führten, dass man nichts mehr zu verlieren hat. Vor der vergangenen Präsidentschaftswahl haben Moskauer Demonstranten dem Kreml Probleme bereitet. Doch nun hat der Kreml einen viel gefährlicheren Gegner bekommen als Nawalny - wütende, weil verarmte Bürger in der Provinz. Hinzu kommen junge Leute, die erstmals massenweise an Protesten teilgenommen haben - ein ebenso neuer Feind des Kreml.“

De Volkskrant (NL) /

Nawalnys Botschaft wird lauter

Die Opposition gegen Präsident Wladimir Putin mit Alexej Nawalny an der Spitze formiert sich, frohlockt De Volkskrant:

„Nawalny hat bewiesen, dass er unzufriedene Menschen mobilisieren kann, nicht nur in den intellektuellen Kreisen von Moskau, sondern sogar in Machatschkala am Kaspischen Meer. ... Ihm ist es gelungen, eine neue Generation in den Protest miteinzubeziehen. Die erste, die keinen anderen Führer kennt als Putin. ... Die Frage ist, wann Nawalnys Botschaft auch im gesamten Volk ankommt. Im Fernsehen, das völlig unter Staatskontrolle steht, werden die Proteste mit keinem Wort erwähnt. Doch die Demonstrationen von Sonntag waren so groß und so weit verbreitet, dass die Zuschauer dennoch davon hörten: Eine Bewegung gegen ihren Präsidenten ist in Gang gekommen.“

Financial Times (GB) /

Antikorruptionskampf unterstützen

Der Westen kann der Protestbewegung am besten Rückhalt geben, wenn er dazu beiträgt, den Korruptionssumpf in Russland trockenzulegen, rät Financial Times:

„Derzeit sieht es nicht danach aus, dass sich die russischen Demonstrationen zu etwas auswachsen werden, das die Stabilität der Regierung gefährden könnte. Der Kreml wird das mit Sicherheit nicht zulassen. ... Doch westliche Staaten sollten sich am Kampf gegen Korruption beteiligen, indem sie verhindern, dass die internationale Finanzinfrastruktur und Steueroasen für russische Geldwäsche eingesetzt werden. Sie sollten sich darüber hinaus weiterhin dafür stark machen, dass russischen Bürgern ihre verfassungsmäßigen Rechte zugestanden werden. Hier geht es im Gegensatz zu dem, was Moskau behauptet, nicht darum, einen Regimewechsel zu fördern. Es geht vielmehr darum, die vielen Russen moralisch zu unterstützen, die sich nach einem gerechteren und stärker an Gesetzen orientierten System sehnen.“